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: Filme von Buddhadeb Dasgupta und Benoit Jacquot

Der Ernst des Lebens

Nicht, dass man nach einem erotischen Film automatisch erotisiert durchs Leben ginge, aber im vergangenen Jahr hatte die Übermacht sexueller Phantasmen, pornografischer Themen und frivoler Filme auf diesem Festival hin und wieder etwas, na ja, sagen wir ruhig: Belebendes. In diesem Jahr ist der Ernst des Lebens auf die Leinwand zurückgekehrt, und im Katalog drängeln sich unterdrückte Iranerinnen neben Hindu-Extremisten, verfolgte kubanische Schwule neben den Drogenbossen von Medellín, bzw. heroinabhängige Wohlstandstöchter neben versklavten Afrikanern des 17. Jahrhunderts. Etwas merkwürdig wird es allerdings, wenn man versucht, das Elend der Welt in eine klassische Unterhaltungsform zu packen – wie etwa das indische Song-and-Dance-Melodram „Uttara“.

Mehr als anderthalb Stunden scheint eigentlich alles in Butter in der indischen Provinz: Ein junger Bahnwärter heiratet, zwei fröhliche Ringer ringen, ein christlicher Priester zieht einen aufgeweckten Waisenjungen auf, und am meistens wolkenlosen Himmel frohlocken pinkfarbene Sonnenuntergänge. Hin und wieder sieht man ein paar finstere Gestalten mit dem Jeep durch die idyllische Gegend brausen, aber ganz dialektisch tanzt dann wieder ein ausgelassenes Trüppchen trommelbewehrter Sänger von rechts nach links durchs Bild. Völlig unvermittelt schlägt plötzlich das Schicksal zu. Innerhalb von zehn Minuten wird der Priester in seiner Kirche verbrannt, ein Liliputaner erstochen und die weibliche Hauptfigur (nachdem schnell noch ihre Ehe zerbrach) vergewaltigt und ermordet. Und Abspann.

Es mag in der indischen Filmbranche ernsthafte Bestrebungen geben, die starre Form der romantischen Song-and-Dance-Filme mit anderen Inhalten zu unterwander, aber Buddhadeb Dasguptas Wettbewerbsbeitrag verfährt mit der Gewalt so wie das populäre indische Kino mit der Sexualität: In den Unterhaltungsfilmen werden Küsse und Berührungen hinter Metaphern und auftrumpfender Musik versteckt, in „Uttara“ sollen die ausdauernden Schreie der Hauptdarstellerin ihre Vergewaltigung bedeuten, während sich die Kamera am malerischen Nachthimmel erfreut. Sexploitation goes Bollywood? Um einiges besser bekommt der Belgier Benoit Jacquot die Gegensätze in den Griff. Sein Film „Sade“ ist Konversationsstück, pornografischer Exkurs, Historienfilm und eine gnadenlose Abrechnung mit der Französischen Revolution (übrigens schon die dritte De-Sade-Verfilmung in diesem Jahr). Gewissermaßen in der Warteschleife zur Guillotine werden die letzten französischen Adeligen 1794 in der Klinik Picpus interniert. Für De Sade ein idealer Biotop, um sexuelle Ausschweifungen in Versuchsanordnungen zu orchestrieren.

Doch was die Fleischbeschau betrifft, hält sich Jacquots Film streng zurück, wirklich nackt sind hier nur die kopflosen Leichen in den Massengräbern der Französischen Revolution. Es ist De Sades Sprache, die hier für ein junges Mädchen im doppelten Sinne zum Instrument der Aufklärung wird, während rundherum die letzten Vogelscheuchen einer abgehalfterten Klasse in ihren Puderperücken vor sich hin modern.

Die finale Defloration ist liebevolle und ganz pragmatische Handarbeit, eine Art sexuelles Testament, denn vor der Tür warten die Guillotine und die Listen von Robbespierres Chefankläger Fouquier-Tinville. Daniel Auteuil spielt den Marquis mit dem melancholischen Charme eines alternden Libertins, der in einsamen Momenten manchmal mit einem Dildo herumspielt.

Sein letzter abgeklärter Rat an den weiblichen Schützling: „Heiraten Sie ruhig, aber bekommen Sie keine Kinder. Das deformiert und bringt in zwanzig Jahren nur schlimme Feinde.“ KATJA NICODEMUS