Fehlende Masse im Weltall

Neutrinos galten lange Zeit als nicht nachweisbar. Die winzigen Teilchen durchdringen fast jede Versuchsanordnung

Das Neutrino wurde nicht entdeckt, sondern erfunden. So ergeht es vielen Elementarteilchen. Jemand stellt eine Theorie auf, die zwar perfekt mit den Beobachtungen übereinstimmt, aber gleichzeitig die Existenz neuer Teilchen verlangt. Tauchen sie dann tatsächlich in den Labors auf, landet die Theorie im Lehrbuch.

Bei den Neutrinos allerdings lag der Fall noch komplizierter. Ihr Erfinder Wolfgang Pauli sagte 1930 mit ihrer Existenz gleich noch die Unmöglichkeit voraus, sie nachzuweisen. Er hatte eine beunruhigende Beobachtung gemacht: Wenn im Atomkern ein Neutron in ein Proton und ein Elektron zerfällt, scheint ein Teil der Energie spurlos zu verschwinden. Um nicht das Gesetz der Energieerhaltung über Bord werfen zu müssen, erfand er kurzerhand ein unbeobachtbares Teilchen, das gleichsam als Abfallprodukt der Reaktion entsteht und sich mit der fehlenden Energie davonmacht.

Das Neutrino waren geboren. An ihrer Existenz zweifelt heute kein Physiker mehr, etwas Gespenstisches haben die Neutrinos aber nach wie vor. So wie wir nichts von ihnen merken, scheinen sie auch gänzlich unbeeindruckt von unserer Welt. So fliegen Neutrinos durch den Erdball hindurch, ohne in ihrem Flug auch nur abgebremst zu werden.

Nach den Gesetzen der Quantenphysik nämlich ist Materie kein undurchdringliches Hindernis, sondern eine feingestaltige Landschaft aus Kraftfeldern, aus elektrischen, magnetischen und anderen Anziehungen und Abstoßungen. Da Neutrinos elektrisch neutral sind und auch auf andere Kräfte nicht ansprechen, können sie in Australien in die Erde eindringen und in Deutschland wieder herausfliegen, als wäre nichts gewesen. Deswegen hielt Pauli auch ihren Nachweis für unmöglich: Neutrinos durchqueren jede Versuchsanordnung, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen. Oder in der Sprache der Physiker: Neutrinos wechselwirken nicht. Fast nicht. Und das ist das Entscheidende.

Ganz selten lassen sich die Teilchen doch einmal zu einer Wechselwirkung hinreißen. 1956 gelang erstmalig, was Pauli für unmöglich gehalten hatte: Neutrinos konnten direkt nachgewiesen werden. Seither haben die seltsamen Teilchen Karriere gemacht. Weltweit beschäftigen sich Dutzende Forschungsteams ausschließlich mit ihnen.

Vor zwei Jahren bewies eine Gruppe in Japan, dass Neutrinos Masse besitzen – und lösten damit eines der größten Rätsel der Teilchenphysik. Studentengenerationen hatten gelernt, in ihren Gleichungen die Neutrino-Masse gleich Null zu setzen. Die Widerlegung dieser Annahme mischte die wissenschaftliche Welt auf. Die Teilchenphysiker machten sich zähneknirschend daran, Hand an ihr Lieblingskind zu legen: das so genannte Standardmodell, in dem die Quintessenz der gesamten Teilchenphysik zusammengefasst ist, war nämlich von masselosen Neutrinos ausgegangen. „Nicht so tragisch“, sagt Heinrich Päs vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Das Standardmodell sei noch zu retten. Dafür müsse allerdings aus Symmetriegründen die Existenz so genannter rechtshändiger Neutrinos postuliert werden, die sich exakt wie das Spiegelbild der beobachteten Neutrinos verhalten.

Den Astrophysikern war die Neutrino-Masse dagegen sehr willkommen. Sie suchen nämlich seit langem händeringend nach Masse im Universum. Der Grund: Die wechselseitige Massenanziehung der bekannten Sterne reicht nicht aus, um sie in Galaxien zusammenzuhalten. Dass sich die rotierenden Sternenhaufen trotzdem erfolgreich gegen die Fliehkraft behaupten können, kann nur eines heißen: Es gibt viel mehr Materie im Universum, als wir mit Teleskopen beobachten können. Die Masse der Neutrinos ist zwar winzig – man bräuchte mehr als 10[31]davon, um auch nur ein Gramm zusammenzubekommen.

Aufgrund ihrer großen Anzahl kommen sie dennoch als Kandidat für die dunkle Materie in Frage. Heinrich Päs dämpft aber allzu große Erwartungen: „Neutrinos können höchstens 10 Prozent der gesuchten Materie stellen.“ Sie rasen annähernd mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum. Nach quantenmechanischen Gesetzen können sich daher im Innern von Galaxien keine großen Zusammenballungen von Neutrinos bilden – gerade dort wird aber die fehlende Masse vermutet. Um das Rätsel der dunklen Materie zu lösen, müssen die Physiker also weitersuchen – oder einfach mal wieder ein neues Teilchen erfinden. Diesmal ein etwas schwereres, wenn’s geht. FELIX WÜRTENBERGER