Club der Blockwarte

Eine Aufgabe der Komitees ist gleich geblieben: bloß aufpassen, dass niemand ein Boot baut

„Die Macht der CDRs beruht auf Misstrauen gegen Misstrauen.Ich weiß nie,wer von meinen Nachbarn mich kontrolliert.“

aus Havanna JÜRGEN SCHÄFER

„Ach der Regen, er ist schuld, wenn heut' nicht alle kommen“, jammert Judith Hernandez, Präsidentin des „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ (CDR), die in Havannas Neubauviertel Nuevo Vedado eine Versammlung einberufen hat. Von 176 Mitgliedern kommen gerade dreißig, und hören sich an, was ihnen Judith für das geplante Blockfest verspricht: Je eine Flasche Rum und Minzlikör für die Erwachsenen, den Kindern spendiert die Ortsversammlung ein paar Pfund Karamellbonbons. „Es lebe die Revolution!“, schließt sie die Versammlung, und der Trupp, der sich weitgehend aus älteren, in Hauskleid und Sporthosen gekleideten Nachbarn rekrutiert, antwortet wie aus einem Mund: „Vaterland oder Tod!“

Mit fast acht Millionen Mitgliedern in 120.000 Komitees bildet die CDR die größte Basisorganisation der kubanischen Revolution. Ob Altpapiersammeln oder Massenaufmarsch, Blutspende oder Bespitzelung – es gibt keine Aufgabe, die für die CDRs zu groß oder zu klein wäre.

Victor Cairo, 63, war in seiner Jugend Boxer, heute tippt er mit seinen schweren Händen revolutionäre Aufrufe zum Jahrestag der CDR. Cairo gehört zur Garde der Revolutionäre, die noch heute ihr Leben für Fidel Castro geben würden. 1959, ein paar Tage nach der Machtübernahme, schrieb er revolutionäre Depeschen aus der Provinz an Raúl Castro, Fidels Bruder. In den Jahren danach machte er eine steile Karriere beim Militär, der Staatssicherheit, der Polizei: „Ich bin immer da, wo die Revolution mich braucht.“

Vor vierzig Jahren lauschte er zwischen 30.000 Menschen auf dem Platz vorm Präsidentenpalast einer Rede Castros, als plötzlich drei Bomben hochgingen. In die verschreckte Menge hinein rief Castro daraufhin die Gründung eines Komitees aus, „das gegen diese imperialistische Aggression ein System der revolutionären Wachsamkeit errichten“ sollte. Cairo verstand die Botschaft: Vier Tage danach gründete er in der Provinz Pinar del Río eines der ersten dieser Komitees, die späteren CDRs.

Ob die Komitees tatsächlich einem Geistesblitz entsprangen oder eh geplant waren, weiß Castro allein. Tatsächlich befand sich Kuba damals in einer prekären Lage: Landreformen und drohende Verstaatlichungen weckten den Argwohn der USA, die Bindung an die Sowjetunion war noch nicht stark genug. Der amerikanische Geheimdienst und die kubanische Opposition versuchten mit Sabotageaktionen, Flugblattregen aus Flugzeugen und Waffenlieferungen an oppositionelle Gruppen, die Revolutionsregierung ins Wanken zu bringen. Eine Invasion der Amerikaner schien jeden Tag wahrscheinlicher.

Auf der anderen Seite konnte sich Castro auf die Rückendeckung der Kubaner verlassen, die nach dem Rauswurf des korrupten Diktators Batista aufatmeten. Als im April 1961 in der Schweinebucht überwiegend aus Exilkubanern bestehende Eindringlinge landeten und auf massenhafte Hilfe der Landbevölkerung hofften, rührte sich kein Finger für sie. Mehr noch: Gab es vor dem Sieg in der Schweinebucht erst 5.500 Komitees, wurden noch im selben Jahr 100.000 weitere gegründet. Als Castro 1961 die Kampagne zur Alphabetisierung des Landes ausrief, schickten die CDRs hunderttausend Lehrer durch die Dörfer. Nachdem durch das amerikanische Embargo die Lebensmittel knapp geworden waren, sorgten die CDRs für die gerechte Verteilung.

Die wichtigste Aufgabe ist jedoch nach wie vor die „Revolutionäre Wachsamkeit“, daran lässt Victor Cairo keinen Zweifel. „Wenn der Nachbar heimlich ein Floß baut, um das Land zu verlassen, muss das der Polizei gemeldet werden, und wenn bei einem Kubaner verdächtige Ausländer ein und aus gehen, verständige ich die Stasi.“ Das System garantiert eine perfekte Überwachung: „Wenn du heute in Havanna untertauchen willst, habe ich dich in weniger als 48 Stunden gefunden.“ Von Terror gegen Regimegegner will er nichts wissen: „93 Prozent aller erwachsenen Kubaner sind Mitglied in ihrem CDR, mehr als je zuvor.“

In der Tat zahlen fast alle Kubaner ihre 10 Pesos Jahresbeitrag und erscheinen mehr oder weniger regelmäßig zu den Treffen. Eine mächtige revolutionäre Streitmacht? „Ich bin Mitglied, weil ich keinen Ärger kriegen will“, sagt Alvaro, 34, der mit seiner Mutter in Havannas Außenbezirk La Lisa wohnt, „würde ich austreten, hätte ich sofort den CDR-Präsidenten auf dem Hals.“ Das könnte Alvaro, der sich mit Schwarzhandel durchs Leben schlägt, als Letztes gebrauchen.

Alvaros Dilemma ist typisch für den paradoxen Vorgang, dass die CDRs immer mehr Mitglieder gewinnen, je stärker die Wirtschaft kapitalistisch unterwandert wird. Seitdem 1993 der Dollar als Zweitwährung eingeführt wurde, hat sich in Kuba eine Doppelökonomie herausgebildet: Während die Löhne in den Staatsbetrieben in Pesos ausgezahlt werden, gibt es bestimmte Waren wie Shampoo oder Pflanzenöl nur gegen Dollars. Wie also an Dollars rankommen? Zigarren, Medikamente, Goldzähne oder Fernsehgeräte – auf dem Schwarzmarkt Havannas gibt es so gut wie alles zu kaufen. Diese tägliche lucha, der Überlebenskampf am Rand der Legalität, macht anfällig für Bespitzelung – weshalb es ratsam ist, sich in die Massenorganisation einzuschreiben.

Nirgendwo wird der Widerspruch deutlicher als in der Altstadt Havannas, durch die jedes Jahr Hunderttausende Touristen streifen, um in noblen Kolonialhotels zu logieren, in funkelnden Shops Luxusgüter zu kaufen oder Mojitos und Daiquirís in den Bars zu schlürfen – direkt vor den Augen und doch unerreichbar für die 120.000 Bewohner der Altstadt. Luis Matos, 48, Chef einer CDR-Zelle mit dem Namen „Carlos Marx“ in einem Straßenblock der Calle Empedrado, weicht den Widerprüchen nicht aus. In seiner Wohnung grüßt ein überlebensgroßes Foto Che Guevaras, doch Matos behält die Parolen für sich. Es stimme, dass die Dollarisierung die Solidarität belaste, aber: „Das Geld, das durch den Tourismus ins Land kommt, investieren wir in Schulen und Hospitäler.“ Natürlich habe der Dollar den Neid gefördert – „früher hatten wir weniger, aber alle hatten gleich viel“ –, doch sei es „nicht die Schuld der Revolution, dass der eine Verwandte in Miami hat, die ihm Geld schicken, und der andere nicht“.

Dass es rumort in der Bevölkerung, bleibt Matos nicht verborgen: „Es gibt viele Kubaner, die sich abgewendet haben von der Revolution“, sagt er, und verbessert sich schnell: „Ein paar, nur ein paar sehr wenige.“ Eine Gefahr sieht er darin nicht: „Zehn Unzufriedene machen mehr Krach als hundert Zufriedene.“

Matos weiß, was er der Revolution verdankt: „Meine Tochter was als Kleinkind schwer asthmakrank. Innerhalb eines Jahres zehnmal auf der Intensivstation. Ich habe keinen Pfennig dafür bezahlt, dass sie von hervorragenden Ärzten behandelt wurde. In keinem anderen armen Land hätte sie überlebt.“

Seinen CDR sieht Luís Matos in erster Linie als soziale Organisation; er sorgt dafür, dass die junge Mutter, deren Mann, Arzt, im Auslandsdienst in der Dritten Welt arbeitet, versorgt ist; er organisiert eine Fete für einen Jugendlichen, der zum Militär einberufen wird. Oberste Priorität hat auch für Matos die „revolutionäre Wachsamkeit“, was in seinem Block heißt: schauen, dass sich niemand illegal vom Land einnistet, zusehen, dass keiner zu lange arbeitslos bleibt, aufpassen, dass keiner illegale Ware verzockt. Wenn es geht, will Matos alles ohne Polizei regeln: „Vor zwei Jahren hat hier einer angefangen, ein Mädchen bei sich unterzubringen, eine angebliche Kusine, und dann tauchten Ausländer auf. Ich habe mich mit ihm aufs Sofa gesetzt und gesagt: ‚Junge, so geht's nicht, in meinem CDR gibt's keine illegale Prostitution.‘ Zwei Tage später war die Kusine verschwunden.

Einer von zehn Präsidenten habe seinen CDR derart gut im Griff, schätzt Reina, 28, eine der Überlebenskünstlerinnen in der Altstadt Havannas, die Kaffee von Haus zu Haus verkauft und Touristen gegen Dollars in Privatrestaurants führt: „Meine CDR-Präsidentin verleiht illegal Videos, und dass die drei Polizisten, die bei ihr im Haus wohnen, nicht einschreiten, liegt vor allem daran, dass sie selber mit allem handeln, was sie in die Finger kriegen.“ Ihr CDR, sagt Reina, sei eine konterrevolutionäre Keimzelle: „Wenn die Polizei zum CDR-Präsidium kommt und fragt: ‚Was haltet ihr von dem und dem?‘, sagen die grundsätzlich: ‚Der ist voll in Ordnung.‘ Und gehen hinterher zum Betreffenden, um ihn zu warnen.“ Dennoch sei auch dies im Sinne des Erfinders: „Die Macht der CDRs beruht auf Misstrauen gegen Misstrauen. Ich weiß nie, wer von meinen Nachbarn mich kontrolliert.“

Natürlich geht auch Reina zu den Versammlungen, ruft „Viva!“ und „Vaterland oder Tod!“, obwohl ihr das Leben im Grunde zu schade ist für den Kampf gegen den Imperialismus. Sosehr sie sich der Widersprüche ihres Alltag bewusst ist – auf dem kapitalistischen Schwarzmarkt zu überleben und zugleich die Fahne brüderlicher Solidarität vor sich herzutragen –, so wenig verspürt Reina das Bedürfnis, daran etwas zu ändern. „Ich weiß mich hier durchzuschlagen.“