Demokrat auf schmalem Grat

Heute vor 150 Jahren starb der Berliner Komödiant und Opernkomponist Albert Lortzing. Seine Meriten sind heute verblasst. Eine neue Biografie versucht, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen

von FRIEDER REINIGHAUS

Sein Ende war elend. Am 21. Januar 1851 starb Albert Lortzing in einer Berliner Vorstadt – mittellos und mit leerem Auftragsbuch, seit er seine Stellung als Dirigent im Theater an der Wien verloren, sich über Nacht aus der österreichischen Hauptstadt verdrücken hatte müssen und „Flüchtling im eigenen Land“ geworden war.

An den zeitweise und gerade auch in Wien zugespitzten Auseinandersetzungen um deutsche Einheit, Freiheit und ein neues Recht hatte der Künstler auf der Seite der Bürger und Demokraten teilgenommen.

Lortzing hatte mit der Muskete an der Barrikade gestanden, vor allem aber mit der Feder gefochten. Parallel zu den revolutionären Ereignissen brachte er – für die von ihm und seinen Freunden erwartete „neue Zeit“ – Text und Partitur einer großen Oper zu Papier, in der sich das aus der Nähe beobachtete Geschehen niederschlug: Streikende Arbeiter und beschwichtigende Unternehmer, Maschinensturm und Bürgerwehr, allgemeiner Jubel über neue Freiheit und tiefe Bedrückung über die ihr zuwachsenden Bedrohungen. Freilich war diese große dreiaktige Oper „Regina“ mehr als nur Echolot der Zeit: eine durchaus packende Story, deren Heldin nach der geliebten Ehefrau benannt wurde und sich aus den Schrecken, in die sie gestürzt wird, selbst befreit, indem sie ihren Peiniger erschießt.

Als Autodidaktder Opernbühne

Die inhomogene große Oper bewegte sich auf der Höhe der Zeit: zwischen ländlicher Idylle und heftig angebrochener Industrialisierung, zwischen den Idealen der bürgerlichen Revolution und rabiater, terroristischer Selbstverwirklichung. Das war, wie so manches zuvor, was der Komödiant und Singspielkomponist seinem mittleren Publikum serviert hatte, auf seine Weise wirklich neu und theaterrevolutionär.

Weniger war es die Musik gewesen, zu der Lortzing als Autodidakt kam – von Kind an stand er auf der Wanderbühne, bei der seine Eltern engagiert waren. Dort, nirgendwo anders, lernte er das Handwerk.

Bis 1970 hatten die Komischen Opern Lortzings zum „eisernen Bestand“ der deutschsprachigen Stadt- und Staatstheater gehört. Doch die historischen Meriten sind verblasst – im letzten Jahrzehnt erging es dem Werk Lortzings wie den Technologie-Aktien im zurückliegenden Jahr: Trotz kleiner „Erholungen“ fiel die Wertschätzung – auf „historische Tiefststände“.

Gegen einen Haupttrend der fortschreitenden Moderne, dem so manches Mittelgut des 19. Jahrhunderts zum Opfer fiel, erhebt nun eine umfangreiche Darstellung von Leben und Schaffen des Komödianten und Komponisten Einspruch: Jürgen Lodemann, vormals Literaturredakteur des SWR-Fernsehens, schrieb mit Herzblut über den Mann, dessen Musik ihn schon als Schüler begeisterte und ihm zeitlebens freundliches Gegenbild zum verworren-abgründigen Richard Wagner blieb. In den Texten der „Komischen Opern“, zu denen Lortzing – etliche Jahre vor Richard Wagner – sich auch die meisten Libretti selbst arrangierte oder ganz neu schrieb, wird der kritische Reflex auf die Biedermeierzeit hervorgehoben. Die Briefe erscheinen als Fundgrube zur Sozialgeschichte der Musik und des Theaters.

Es fasziniert, dass und wie weit Lortzing von unten kam – und wie weit er es unter den ihm mitgegebenen Bedingungen brachte. Lodemann greift ausführlich auf die Familiengeschichte zurück, um den Willen des Komödianten und Sängers zu motivieren, sich als Kapellmeister und Komponist „ehrbar“ zu machen: Die Vorfahren waren Henker und Abdecker; wechselten dann (was nahe liegend war) ins Ledergeschäft und, nach dessen Ruin unter der napoleonischen Besatzungsherrschaft, ins ambulante Theatergewerbe. Liebevoll und minutiös zeichnet Lodemann nach, wie der junge Albert in der Bretterbudenwelt heranwuchs und sich künstlerisch vielseitig erprobte. Aber eben als Autodidakt.

Durch die neue Biografie entsteht das durchaus lebendige Bild eines bewegten, arbeitsamen, ohne Schonung gelebten Lebens. Das wird vom trüben, trostlosen Ende des zum entschiedenen Demokraten gereiften Künstlers her interpretiert. Darin folgt die neue Gesamtschau den Programmheft-Texten zur Aufführung der Revolutions- und Schreckens-Oper „Regina“ 1981 in Oberhausen und 1998 in Karlsruhe. Insbesondere auch der mit vielen bis dahin unbekannten oder nur verstreut mitgeteilten biografischen Details bestückten Lebensbeschreibung des Aachener Publizisten Hans Hoffmann von 1987. Leider wird das – wie alle anderen Quellen – von Lodemann verschwiegen. Und leider tendiert dieser Biograf auch dazu, seinen Antihelden politisch überzustrapazieren.

Pazifist aus Gründender Gattungsnorm

Beispielsweise reklamiert er Lortzing – vor der Anbruchszeit der modernen Friedensbewegungen – als einen ersten Pazifisten: „In seinen zwölf Opern wird es nur einmal einen Toten geben, in ,Regina‘ “, bemerkt er (es sind freilich etliche, die da ins Gras beißen müssen!). Und weiter: „Im Vergleich zu den Opern Wagners oder Verdis zeigt das eine seltene Zurückhaltung.“ Allerdings dürfte jene Zurückhaltung kaum aus politischer Moral geübt worden sein. Sie entsprach schlicht der Gattungsnorm. Tote kommen eben im Lustspiel so wenig vor wie im Singspiel; bei Lessing ist das nicht anders als bei Goethe oder Mozart.

Man sollte Lortzing also nicht mit zu hoch gesteckten Erwartungshaltungen überfordern, den Meister des leichteren Tons. Diese „ehrliche Haut“ einer Aufbruchszeit musste sich auf der Bühne verschleißen und konnte die höheren Lebensziele nur partiell erreichen. Denn die Verhältnisse, die waren nicht so.

Lortzing schrieb für seine Gegenwart. Und der späte Wunsch, Kunst für die Zukunft zu Wege zu bringen, wurde ihm auf ganz andere Weise, als er annehmen konnte, erfüllt. Mit den biedermeierlichen, weithin noch so ganz an Mozart erinnernden Tönen wie mit den demokratischen Fermenten muss der Musik- und Theaterbetrieb umgehen, wenn er heute oder künftig Albert Lortzings fern gerückte Werke produktiv reaktivieren möchte: mit der Erinnerung und Umnutzung des Leichten, das bekanntlich so schwer zu machen ist.

Derzeit steht Lortzings Werk außerhalb des Blickfelds der Theatermacher, die sich – anlässlich von dessen hundertstem Todestag – lieber auf Verdi kaprizieren. Verdi (und der fortdauernd Sinn und Streit stiftende Wagner) werfen einen Schatten, aus dem sich ihr etwas älterer Halbbruder im Streben nach einer von derberen Anfängen zu neu differenzierter Dramatik sich erhebenden Musik nicht so ohne weiteres wird lösen können.

Doch das momentane Desinteresse an den Werken seines Antihelden mag, wie Jürgen Lodemann bemerkt, kein dauerhafter Schade sein. „Es schafft Distanz vom Missbrauch, vom sentimentalen wie vom teutonischen.“ Freilich beklagt der Biograf auch, dass „in der Flut der Gedenktage und Festivals keine der kulturbeflissenen Städte auf die Idee kam, sich auf einen wie ihn zu berufen“.

Keines der vielen Festivals wagte sich z.B. an die Festoper „Hans Sachs“. „Seine Geburts- und Sterbestadt hätte gute Gründe für eine Annäherung an seinen ‚reinsten Unsinn‘. Ebenso Leipzig, der Ort des ‚aller kränkendsten‘ – und Lortzing wurden, nachdem ihn eine erste Sympathie- und Erfolgswelle emporgetragen hatte, nicht wenig Kränkungen zugefügt: Imponderabilien, die an seinem raschen Verschleiß und frühen Tod erheblichen Anteil gehabt haben.“

Hans Hoffmann: „Albert Lortzing. Libretto eines Komponisten-Lebens“. Droste Verlag, Düsseldorf 1987. 403 Seiten, 39,80 DMJürgen Lodemann: „Lortzing“. Steidl Verlag Göttingen 2000. 672 Seiten, 38 DM