Kongos Schatten über Belgien

Belgien setzt die Untersuchung des Todes von Patrice Lumumba aus. Einer seiner Berater erhebt neue Vorwürfe

„Richten Sie aus: Wir werden Lumumba und alle seine weißen Unterstützer liquidieren“

BRÜSSEL taz ■ Der Mord an Laurent Kabila im Kongo am 16. Januar hat noch ein Opfer gefordert: Die belgische Untersuchung des Mordes an Kongos erstem Premierminister Patrice Lumumba. Aus Angst vor einer Gefährdung belgischer Staatsbürger im Kongo im Falle neuer Enthüllungen über Belgiens Rolle bei Lumumbas Tod am 17. Januar 1961 hat Parlamentspräsident Herman Da Croo die Weiterführung der Arbeit der Lumumba-Untersuchungskommission des belgischen Parlaments vorerst auf den 31. Mai verschoben.

Er und andere Abgeordnete waren sichtlich erschüttert über Angriffe auf belgische Journalisten, die im Januar zum Staatsbegräbnis Kabilas nach Kinshasa gereist waren. „Belgier – Mörder“ schrien junge Kongolesen und attackierten die Journalistenautos mit Steinen und Knüppeln. Sie glaubten Gerüchten über eine belgische Beteiligung an Kabilas Ermordung.

„Völlig absurd“, findet diese Gerüchte der 75-jährige belgische Anarchist Jean Van Lierde, einstiger Berater Lumumbas, dessen anstehender Auftritt vor der Lumumbakommission der belgischen Panik zum Opfer gefallen ist. Kabila habe trotz gegenteiliger Behauptungen seiner Verehrer mit Lumumba nichts gemein, findet der Freund Jean-Paul Sartres und erinnert sich an Kabilas Guerillerakämpfer von 1963/64: „Das waren Schwarze Khmer. Sie haben idiotische und unnütze Verbrechen begangen.“

Da er nicht vor der Untersuchungskommission aussagen konnte, hat Van Lierde mit der taz gesprochen. Dass Belgien direkt an Lumumbas Ermordung beteiligt war, hat bereits der Soziologe Ludo De Witte in seinem Buch „L’Assassinat de Lumumba“ nachgewiesen. Diese Veröffentlichung war der Grund für die Einrichtung der Untersuchungskommission. Aber Van Lierde, der in den 50er-Jahren belgische Jugendliche zur Verweigerung des Dienstes in der Kolonialarmee aufrief und dafür im Gefängnis saß, geht in seiner Einschätzung weiter als De Witte, dem er vorwirft, die Rolle des Kalten Krieges bei Belgiens Entscheidungen zu unterschätzen.

Schon bei Lumumbas Sieg in Kongos ersten und einzigen freien Wahlen im Mai 1960 war Belgiens König „sehr erzürnt“, erinnert sich Van Lierde. „Die Ernennung Lumumbas zum Premier (nach dem Wahlsieg) sollte einen Aufstand der lumumbistischen Jugend verhindern, und die Belgier verteilten damals bereits Kuverts an kongolesische Politiker“, sagt der Anarchist. „Sie (die belgischen Verantwortlichen, d. Red.) merkten, dass sie diesen Mann nicht korrumpieren und beherrschen konnten. Sie sagten sich: Der ist gefährlich!“

Van Lierde erinnert daran, dass es direkt nach der Unabhängigkeit des Kongo am 30. Juni 1960 in Belgien eine Hetzkampagne gegen den jungen Regierungschef gab. So schrieb der Lütticher Philosophieprofessor Marcel De Cort im August 1960 in der Zeitung La Libre Belgique: „Wer wird den Mut haben, diese Person zu erschießen?“ Und Van Lierde wurde wegen seiner Freundschaft mit Lumumba persönlich bedroht. Im September 1960, sagt er, habe ein Doppelagent der kongolesischen und belgischen Geheimdienste namens Gilbert Pongo einem seiner Freunde gesagt: „Richten Sie Van Lierde aus: Wir werden Lumumba liquidieren, und alle seine weißen Unterstützer landen im selben Loch wie er.“

Pongo verhaftete Lumumba, der am 14. September 1960 als Premierminister abgesetzt und im November unter Hausarrest gestellt worden war, am 2. Dezember nach fünf Tagen auf der Flucht. Sein Vorgesetzter war damals Geheimdienstchef Victor Nendaka – laut Van Lierde ein „Instrument des belgischen Geheimdienstes“. Van Lierde sagt weiter, dass nicht, wie allgemein berichtet, der damalige Armeechef und spätere Diktator Joseph Désiré Mobutu Lumumbas Ermordung angeordnet habe, sondern ein Trio aus Nendaka, dem Innenminister der Sezessionsregierung von Katanga und dem Leiter der Sezessionsregierung von Südkasai, Albert Kalonji. Ohne belgische Logistik – Flugzeuge, Funkgeräte usf. – hätten sie, so Van Lierde, Lumumba nicht nach Katanga fliegen und dort ermorden lassen können.

Der 75-jährige schließt mit einer schweren Anschuldigung: Die sieben zusammen mit Lumumba verhafteten Politiker, die nicht wie der gestürzte Premier nach Katanga gebracht wurden, sondern nach Kasai, habe der dortige Sezessionistenführer Kalonji nach ihrer Ermordung persönlich gepfeffert und gegessen. Diesem Schicksal entrann Lumumba, dessen Leiche in Säure aufgelöst wurde.

FRANÇOIS MISSER