Ein Gräuel ohne Strategie

Sexuelle Gewalt gibt es in jedem Krieg. Sie entsteht spontan. Auch für Bosnien gibt es keinen Beweis, dass die Vergewaltigungen eine serbische „Kriegsstrategie“ waren

Die Vergewaltigung von Serbinnen blieb in der internationalen Diskussion vollständig ausgeblendet

Wie in vielen bosnischen Orten wurde auch in Foča 1992 die muslimische Bevölkerung angegriffen und vertrieben. Wer nicht rechtzeitig fliehen konnte, wurde getötet oder gefangen genommen und nach Geschlecht getrennt interniert. Alle Moscheen wurden zerstört, die Stadt in Srbnje [die Serbische] umbenannt. Kein Zweifel, hier sollte jegliches Zusammenleben von SerbInnen und MuslimInnen für immer unmöglich gemacht werden.

Frauen und Mädchen wurden in Schulen und Turnhallen gefangen gehalten; die Soldaten hatten freien Zutritt. Sie kamen jede Nacht, wählten vor allem junge Frauen und Mädchen aus, nahmen sie mit, vergewaltigten sie, brachten sie zurück, holten sie erneut. Besonders Mädchen wurden monatelang als Privatbesitz in einzelnen Wohnungen gefangen gehalten, einige von ihnen am Ende wie Vieh verkauft. Diese massenhaften Vergewaltigungen wurden jetzt vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verhandelt.

Doch schon weit vorher hatte die Weltöffentlichkeit ihr entsetztes Urteil gefällt: „Vergewaltigungen haben in diesem Krieg eine neue Dimension erreicht. Vergewaltigung ist eine Kriegsstrategie geworden.“ So befand etwa im Dezember 1992 der Deutsche Bundestag. In den folgenden Monaten wurde die deutsche Öffentlichkeit dann mit Meldungen über Vergewaltigungslager, Zwangsbordelle und Vergewaltigungen auf Befehl überschüttet, meist übertitelt mit „Vergewaltigung als Waffe“ oder „Systematische Massenvergewaltigungen“. Noch nie zuvor hatte das Thema Vergewaltigung so viele Gemüter erhitzt.

Hinter dieser öffentlichen Wahrnehmung verbergen sich zwei Annahmen. Die erste: Kriegsvergewaltigungen in diesem Ausmaß seien ein historisch neues Phänomen, ein Gräuel, das in ganzer Grausamkeit erst in Bosnien aufgetreten sei. Die zweite: Diese Vergewaltigungen hätten nur deswegen stattgefunden, weil sie von „oben“ gezielt angeordnet worden seien – eben als eine bewusste Strategie der Kriegsführung und der Vertreibung. Beide Annahmen treffen nicht zu und sind bestensfalls naiv. Tatsächlich hat die sexuelle Gewalt in Bosnien keine neue Dimension erreicht. Schon immer und zu allen Zeiten gehörte zum Krieg und zur gewaltsamen Eroberung von Territorien, dass Frauen vergewaltigt wurden. Bis heute. Neu ist allerdings – und das ist gut so –, dass dies nicht mehr nur noch als „Nebenprodukt“ des Krieges abgetan wird, als unschön, aber zu normal, um sich darüber aufzuregen.

Doch sollte diese neue Aufmerksamkeit nicht dazu führen, dass hinter andauernden Vergewaltigungen eine systematische Strategie vermutet wird. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen kommt auch ohne jede Strategie in jedem Krieg vor; sie entsteht vor Ort, von „unten“. Die Frage ist allerdings, wie sich die Obrigkeit dazu stellt. Die meisten Armeen stellen Vergewaltigungen unter Strafe. In der Praxis jedoch werden sie geduldet oder gar gefördert, solange sie den eigenen Zielen nicht schaden. Nur in diesem Sinne haben Vergewaltigungen fast immer eine kriegsstrategische Funktion. Exemplarisch dafür ist der Überfall der japanischen Armee 1937 auf Nanking. Den „wilden“ Vergewaltigungen der Besatzer fiel fast jede Chinesin der Stadt zum Opfer. Erst als dies weltweit ruchbar wurde und zudem Geschlechtskrankheiten die Wehrfähigkeit der Armee zu zersetzen drohten, entschlossen sich Armeeführung und Kaiser, dem ein Ende zu setzen. Was dann kam, war allerdings nicht weniger katastrophal. Über 200.000 Frauen im asiatisch-pazifischen Raum wurden für Militärbordelle zwangsrekrutiert. Die sexuelle Versklavung war in der Tat generalsstabsmäßig geplant – nicht als Kriegsstrategie, aber zur Förderung der Wehrfähigkeit der eigenen Truppe. Ein Verbrechen, das übrigens bis heute ungesühnt blieb. Dass sich die massenhafte Vergewaltigung aber auch eindämmen lässt, haben die Sowjets 1945 in Ostdeutschland vorgeführt. Nachdem Stalin deklariert hatte, dass die Deutschen nicht mehr als Feinde zu behandeln seien, wurden Vergewaltigungen rigoros geahndet und gestoppt.

Nun ist die Behauptung, die Vergewaltigungen in Bosnien seien eine ausgeklügelte serbische Kriegsstrategie gewesen, nicht nur naiv. Die Aufwertung zur gezielten Kriegswaffe wurde selbst zum Teil einer Strategie – die der Gegenseite. Die Dämonisierung der Serben war westliche und muslimisch-kroatische Kriegspropaganda mit rassistischen Untertönen. Auch Feministinnen, besonders in den USA, haben sich dafür instrumentalisieren lassen. Sie führten neue Kategorien ein wie „genocidal rape“ und „rape warfare“. Dadurch wurde sexualisierte Gewalt nicht mehr als geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen gesehen – sondern als ein Verbrechen gegen eine Nation. Diese Identifikation von Frauenkörpern mit einer Nation gehört nun aber zu den ältesten Propagandatricks kriegsführender Parteien. Ergebnis: Diese Feministinnen unterstützten dann auch blind nationalistische, speziell kroatische Anliegen – während die Vergewaltigung serbischer Frauen vollständig ausgeblendet blieb. „Nebenprodukte“ halt. Indem Vergewaltigung zu einer neuartigen Kriegsstrategie umgedeutet wurde, wurden die Täter ethnisiert – und gleichzeitig kam es zu einem ungewöhnlichen Bündnis von Medien, westlichen Politikern aller Parteien, von Menschenrechtlern, manchen Feministinnen und Teilen der Friedensbewegung. Sie alle forderten eine militärische Intervention gegen die „Vergewaltigung als Waffe“.

Vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag sind die Ereignisse in Foča und damit die Frage systematischer Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina nun vor kurzem erstmals verhandelt worden. Zu Recht wurde die bisher zweithöchste Strafe verhängt: 28 Jahre. Denn die Taten hatten einen organisierten Charakter – aber nicht, weil sie von oben befohlen waren, sondern weil sie weit verbreitet und regelmäßig stattfanden. Auch die vorsitzende Richterin Florence Mumba wies ausdrücklich darauf hin, dass systematische sexuelle Gewalt kein Beweis für die „Vergewaltigung als Kriegsstrategie“ sei.

Auch Feministinnen betrachteten die Vergewaltigungen vor allem als ein Verbrechen gegen eine Nation

Ob mit oder ohne Befehl: Für die Frauen ist die fortgesetzte sexuelle Demütigung ein Verbrechen mit katastrophalen Folgen. Das Urteil von Den Haag, das auch rangniedrige Täter zur vollen Verantwortung zieht, ist daher ein unbedingt notwendiges Signal. Es bietet den betroffenen Frauen Genugtuung; es bestätigt die Zeuginnen, die die Kraft aufbrachten, den Albtraum erneut zu durchleben. Das Urteil, dass Unrecht geschah, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Überlebenden sich wieder heimisch fühlen in dieser Welt und sich nicht mehr als isoliert empfinden mit ihren Traumata.

Doch sollte sich niemand im Westen nach diesem Richterspruch bequem zurücklehnen. Die Empörung sollte sich generell gegen die Selbstverständlichkeit sexualisierter Gewalt richten. Immer. Und nicht nur dann, wenn sie für andere politische Zwecke als Vorwand benutzt werden kann – zum Beispiel für „humanitäre Interventionen“. GABRIELA MISCHKOWSKI