Geschriebene Projektionsmaschinen

„Kritik und Klinik“: Die Sammlung literarischer Aufsätze von Gilles Deleuze ist endlich auf Deutsch erschienen

Unter dem Titel „Critique et clinique“ veröffentlichte der französische Philosoph Gilles Deleuze (1925–95) 1993 eine Sammlung kleiner Schriften, die alle „das Problem des Schreibens“ thematisieren; nun liegt sie auf Deutsch vor.

Prousts Wort, dass „die guten Bücher in einer Art Fremdsprache geschrieben“ seien, liest Deleuze im Vorwort daraufhin, dass der Schriftsteller „Ereignisse an der Grenzlinie der Sprache“ provoziert, die das „Universum“ des Seh- und Hörbaren erweitern: „Er reißt die Sprache aus ihren gewohnten Bahnen heraus und lässt sie delirieren.“ Da dieses Delirium nicht der Nacht des Schweigens, nicht dem klinischen Zustand verfällt, sondern als Literatur beredt wird, postuliert Deleuze Literatur als „Zustand der Gesundheit“. Die im kreativen Prozess freigesetzten Kräfte untersucht er dann anhand ganz unterschiedlicher Autoren, darunter Platon, Paulus, Kant, Nietzsche, Walt Whitman, Alfred Jarry oder Samuel Beckett.

Deleuze liebte es stets, den gewohnten Blick auf Texte zu verfremden; so auch hier, etwa wenn seine Konklusion aus der Formel von Melvilles Erzählung „Bartleby“ „I would prefer not to“ („Ich möchte lieber nicht“) lautet: „Selbst als Katatoniker und Magersüchtiger ist Bartleby nicht der Kranke, sondern der Arzt eines kranken Amerika, der ‚Medicine-man‘, der neue Christus oder unser aller Bruder.“

Eine der schönsten Arbeiten des Essaybandes beschäftigt sich mit T. E. Lawrence. Über Reflexionen des Lichts und des Farbenspiels in der Wüste tastet sich Deleuze an Lawrence heran, um seine von der Landschaft entfachte, von allem Anfang an dem Scheitern geweihte „Projektionsmaschine“ freizulegen: „politisch, erotisch, künstlerisch“. Gilles Deleuze bringt das Phänomen „Lawrence of Arabia“ auf 15 Seiten mehr zum Sprechen als manche vielhundertseitige Biografie; so viel sei hier von einem Band versprochen, dessen Arbeiten hinsichtlich der in ihnen thematisierten Literaturen viele neue Denkwege skizzieren und darin weit über alles Sekundäre hinausgehen. FLORIAN VETSCH

Gilles Deleuze: „Kritik und Klinik/Aesthetica“. Aus dem Französischen von Joseph Vogl. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, 205 Seiten, 19,80 DM