Die Familie als Ersatz für den Sozialstaat

aus Rom MICHAEL BRAUN

Mamma und Papa, dazu viele, viele Bambini rund um den Tisch unter der Pergola – in der Pasta- und Pizzawerbung im italienischen Fernsehen ist die Großfamilie lebendig wie eh und je. Und auch der Generationenvertrag funktioniert prima, ganz ohne Sozialstaat: Selig lächelnd sitzen die Großeltern am Kopfende der Tafel.

Wahr an dem Rührstück ist nur eines: Bisher lässt der italienische Staat seine Bürger ziemlich allein mit den Kosten und Mühen, die die Junioren und die Senioren im Familienverband so mit sich bringen. Förderung der Familien per Steuernachlass oder Kindergeld? Mehr als ein Trinkgeld halten die öffentlichen Kassen nicht bereit. Ein Kind bringt pro Jahr schlappe 500 Mark Steuerersparnis, und Kindergeld gibt's nur, wenn die Eltern so gut wie nichts verdienen: Bei 20.000 Mark brutto jährlich werden 250 Mark fürs erste Kind gewährt, doch schon wenn die Familie 40.000 Mark überschreitet, schnurrt die Förderung auf 50 Mark pro Monat zusammen.

Warum fördern, was es sowieso gibt – in dieser Logik handelte jahrzehntelang der italienische Staat. Nachwuchs war überreichlich vorhanden: Bis in die 70er-Jahre wanderten Jahr für Jahr zehntausende aus dem Mezzogiorno aus. Und für die Daheimgebliebenen funktionierte „la famiglia“ auf vielen Feldern als Sozialstaatsersatz. „Mediterraner Sozialstaat“ nennen das die Experten; sie meinen damit ein löchriges Netz der Sicherung, in dem die Familie notgedrungen auf vielen Feldern für den abwesenden Staat einspringt.

Recht oder schlecht funktioniert das System bis heute. Die Folgen allerdings sind fatal: Statt der Großfamilie ist die „famiglia lunga“, die „lange Familie“ auf dem Vormarsch. Immer später verlassen die Jugendlichen den elterlichen Herd, wenn sie endlich mit 30 einen Job gefunden haben und nicht mehr den Eltern auf der Tasche liegen, immer später heiraten sie, setzen sie Kinder in die Welt. Mit 1,2 Bambini pro Paar ist Italien mittlerweile weltweit Schlusslicht.

Erst in den letzten Jahren ist die Politik wach geworden. Schritt für Schritt werden mit jedem Staatshaushalt die Steuerfreibeträge für Kinder angehoben; zudem wurde ein bescheidenes Erziehungsgeld für die ersten zehn Monate nach der Geburt eingeführt. Parallel dazu nimmt der Staat sich der pflegebedürftigen Alten an. Ein Gesetz vom letzten Jahr sieht die flächendeckende Einführung eines staatlichen Pflegedienstes vor. Anders als Deutschland plant Italien jedoch nicht die Schaffung einer neuen Sozialversicherung; wie schon das Gesundheitswesen soll der neue Pflegesektor komplett aus dem Staatshaushalt finanziert werden.

Und so gibt es in Italien bisher auch keinen Streit zwischen Kinderlosen und Familien: Formal geht der Sozialstaat kaum zu Lasten der Arbeitnehmer. Die Rentenbeiträge hat zum Großteil der Arbeitgeber zu tragen; Kranken- und Pflegeversicherung tauchen gleich gar nicht in der Gehaltsabrechnung auf. Unter der Rubrik „Lohnsteuer“ werden die Sozialabgaben versteckt. Das ändert in der Sache wenig – doch es hilft, hässliche Diskussionen zu vermeiden.