Kommissar Brainstorming

Sie werden um Hilfe gefragt, wenn örtliche Polizeiermittler nicht weiterkommen. Auf ihrer Suche nach Mördern und Vergewaltigern: Fallanalytiker, Profiler. Die größten Spezialisten unter ihnen sind beim Bundeskriminalamt angesiedelt. Sie müssen die Ergebnisse normaler Polizeirecherchen weiterdenken können. Sich in andere Menschen und Milieus hineinversetzen. Und sich nicht von einer rasenden Öffentlichkeit unter Druck setzen lassen

von ULRIKE WINKELMANNund LUKAS WALLRAFF

CB-Funker. Der Mörder musste ein CB-Funker gewesen sein. Da war sich Harald Dern ganz sicher. Das sagte ihm das Gefühl – ein Kondensat aus den Vermutungen über den Täter und den Einschätzungen darüber, wie junge Männer im Oldenburgischen so ticken, die einsam sind und die als einzigen Freund das Auto haben, mit dem sie stundenlang durch die Gegend fahren.

Unzählige junge Männer in der Provinz verbringen ihre Zeit im, am und ums Auto, und wenn sie nicht unter der Motorhaube stecken, um am Motor herumzufrickeln, sitzen sie drin und brettern die Landstraßen entlang. Cruisen kann man dies auch nennen, scheinbar planlos umherstreifen.

Kriminalisten ergänzen die Bedeutung des Cruisens noch: In der Sprache der Verbrechensforscher wird es als die scheinbar ziellose Suche nach einem Opfer verstanden. Der Mörder von Christina Nytsch musste beim Cruisen auf sein Opfer gestoßen sein.

Harald Dern war Mitglied eines Teams vom Bundeskriminalamt, das 1998 den Mord an dem elfjährigen Mädchen im niedersächsischen Landkreis Cloppenburg untersuchte. Das BKA-Grüppchen war aus Wiesbaden angereist, um den Tatort zu untersuchen, mit Angehörigen und Freunden des Opfers zu sprechen, das Umfeld der Tat zu begutachten. Der Täter, sagten die Beamten schließlich, müsse zwanzig bis siebenundzwanzig, höchstens dreißig Jahre alt sein. Und er würde im Umkreis von zehn, bestenfalls fünfzehn Kilometern wohnen. Die Effizienz, die aus dem Tatort und den Tatspuren an dem Mädchen sprach, legte Zeugnis davon ab, dass dies kein Ersttäter war.

Christina Nytsch war ein sehr selbstbewusstes Mädchen, das sich nicht einschüchtern ließ. Wer sie entführen wollte, musste schon mit rascher Gewalt vorgegangen sein. Der Täter, das ergaben schon die ersten Analysen, fuhr Auto, doch er hatte auch etwas Infantiles – dafür sprach das Tatwerkzeug, ein billiges Stilett mit Plastikgriff.

Und er war, das glaubte Harald Dern zu wissen, CB-Funker, einer mit einer Funkanlage im Wagen. Wie kam er darauf? Man mag sich das so vorstellen: Bei den Befragungen im Ort war das Team des „Fachbereichs Operative Fallanalyse“ (OFA) auf Dutzende über Zwanzigjährige gestoßen, die abends einsam durch die Gegend mit ihren Autos zu fahren schienen. Trostlos wirkte deren Leben, aber man wollte sich ja nicht gleich ein Urteil über anderer Leute Freizeitgestaltung erlauben. Auch Harald Dern nicht. Aber könnte nicht genau so einer der Täter sein? Einer, der andere Menschen scheut, am liebsten gar jeden Kontakt von Angesicht zu Angesicht meidet. Einer, der sich viel langweilt, der womöglich oft mit dem Wagen herumfährt, dort drinnen das einzige Medium verankert, mit dem er kommunizieren kann – die CB-Funkanlage.

Im OFA-Team hatte Dern seine Idee mit Eifer vertreten, doch überzeugt hatte er niemanden. Denn konkrete Anhaltspunkte hatte der Kollege, sich selbst erst in den Alltag anderer Gegenden und Milieus einfühlend, nicht zu bieten. Im Nachhinein können alle, die damals dabei waren, über das Kommen und Gehen „wilder Ideen“ wie die vom CB-Funker lachen.

Wenn sie an einem aktuellen Fall sitzen, sind sie weniger lustig. Noch immer ist zum Beispiel der Mörder von Kehl nicht gefasst, ein Mann, der im Abstand von zwei Jahren wahrscheinlich drei Frauen umgebracht, eine weitere schwer verletzt hat. Kehl am Rhein ist keine große Stadt, und die Sonderkommission vor Ort, unterstützt vom Landeskriminalamt aus Stuttgart, tut alles, was sie kann. Doch keine noch so aufwändige Analyse aller Spuren hat bislang zum Täter geführt.

Über noch nicht gelöste Fälle, an denen das OFA-Team beteiligt ist, gibt es keine Auskünfte. Nur so viel: Die Angst vorm nächsten Anruf ist immer da. „Wenn das Telefon klingelt und Stuttgart ist dran, sind wir besonders elektrisiert“, sagt Rainer Witt. „Es kann immer die Meldung sein, dass wieder ein Mord geschehen ist.“ Aber gleichzeitig, ergänzt Michael Baurmann, „ist jeder Mord in einer Serie auch eine neue Möglichkeit, neue Erkenntnisse über den Täter zu gewinnen. Das ist, schrecklich genug, unsere Chance.“

Sechs bis sieben Fälle im Vierteljahr bearbeiten die Leute von der OFA. Angerufen werden sie in spektakulären Fällen, wenn die Dienststellen in den Ländern unter besonderen Druck geraten. Druck heißt, wenn Morde geschehen sind, die in der Öffentlichkeit besonderes Aufsehen erregen, etwa an Kindern. Und vor allem: Wenn sich verschiedene Taten zu einer Serie zu fügen scheinen. „Dann kommt vor Ort verständlicherweise Panik auf“, sagt OFA-Mann Rainer Witt. Bei einem Verdacht auf Serientäterschaft wird das Bundeskriminalamt besonders gerne zu Hilfe gerufen, und sei es nur, um den einen knackigen Satz auf der Pressekonferenz sagen zu können: „Das BKA ist eingeschaltet.“

Irgendwo in einem Gewerbegebiet zwischen Wiesbaden und Mainz steht ein Neubau im Stil etwas unübersichtlicher Provinzpostmoderne; kein Schild am Eingang weist auf das Bundeskriminalamt hin: Hier arbeitet die OFA. Die Pressestelle besteht darauf, dass der Ort ungenannt bleibt. Wo der Stammsitz des BKA ist, ist allgemein bekannt, doch der ist auch gesichert wie ein moderner Hochsicherheitstrakt. Die Räume hier dagegen sollen keinerlei Interesse wecken, weder bei Medien noch bei möglichen Gegnern des BKA. Der Raum, in dem das OFA-Team sitzt, wenn es einen Fall bearbeitet, ist in Grau und Weiß gehalten. Kaffee, Tee und Schokolade werden in die Runde geschoben.

Michael Baurmann, Harald Dern, Karin Trautmann und Rainer Witt, die zum Gespräch mit der taz erscheinen, sind nur vier der insgesamt sechzehn Beamten, die zur OFA gehören. Doch sie bilden ein Team, wie es gut funktionieren könnte: Baurmann, unbestrittener Chef, 54 Jahre alt, Doyen der OFA in Deutschland, Psychologe mit jahrzehntelanger Erfahrung im Bereich Sexualdelikte und Opferforschung, kann nur Kopf und Moderator jeder Gruppe sein.

Das fliederfarbene T-Shirt mit weitem Ausschnitt, das lässig unter dem weichen, legeren Hemd hervorlugt, steht in vermutlich gewolltem Kontrast zu Baurmanns über Stunden hinweg beherrschter, wenn nicht abweisender Miene. Harald Dern, 39, schmal, drahtig, wirkt neben Baurmann wie ein Ausbund an energischem Temperament, seine großen Augen wollen überzeugen, seine Mimik wird umso lebendiger, wenn er auf sein Spezialgebiet zu sprechen kommt: Serientäter.

Von diziplinierterer, geschulter Freundlichkeit ist dagegen Rainer Witt, 33, dessen hoch geschlossenes Hemd täuscht: Als Einziger spricht er auch darüber, was ihn antreibt – „Gerechtigkeit“ –, und was es bedeutet, manche besonders grausamen Fälle nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen und mit nach Hause zu nehmen. Sein Spezialgebiet ist die Tatortarbeit, er ist der Spurenleser. Jüngste und einzige Frau ist Karin Trautmann, 27-jährige Fallanalytikerin: Ihr Gebiet ist die Rechtsmedizin, die Analyse der Tatspuren am Körper des Opfers. Ihre schwarz ummalten Augen verraten außer großer Skepsis wenig, die Arme bleiben beim Gespräch vor der Brust verschränkt.

Außer Baurmann haben sie alle kein akademisches Studium absolviert, sondern die Polizeifachhochschule durchlaufen. Jetzt sind sie ihrerseits dabei, Beamte der Landeskriminalämter auszubilden. Ihren Lehrgang „Fallanalyse“ haben bislang rund sechzig PolizistInnen durchlaufen.

Eine automatische Zuständigkeit bei der Bearbeitung von Kriminalfällen gibt es für das BKA nicht. Es gilt vor allem, niemanden zu schulmeistern. Denn für die Polizeien und Landeskriminalämter sind die Bundesländer zuständig. Deshalb werden bei den Fallanalysen des BKA immer auch Ermittler aus den Bundesländern mit ins Team einbezogen. „Dadurch sichern wir uns eine hohe Akzeptanz“, sagt Baurmann. Kompetenzrangeleien, ein altes Thema der Polizeiarbeit, würden dadurch vermieden. „Wenn wir versuchen würden, uns aufzudrängen, würde das die Arbeit vor Ort ruinieren.“ Das BKA sei kein FBI, ergänzt er scharf. Den gern gezogenen Vergleich mit den prominenten „Profilern“ der US-amerikanischen Bundespolizei lehnt er ab.

Vielleicht auch deshalb, weil das BKA zumindest im öffentlichen Bild an Bedeutung verloren hat. Als die Bundesbehörde gerade ihren fünfzigsten Geburtstag feierte, wiesen viele Kritiker auf den vergleichsweise üppigen Etat und den opulenten Personalapparat hin, der noch aus den Siebzigerjahren stammt, als das BKA mit dem linksbürgerlichen Terrorismus der RAF zu tun hatte.

„Da hatte jeder einen unglaublichen Bammel vor dem Terrorismus, auch jeder Landesminister“, erinnerte sich der damalige, inzwischen legendäre BKA-Chef Horst Herold kürzlich in der Süddeutschen Zeitung, „und jeder sah ein, dass das nun wirklich eine überörtliche Angelegenheit war.“ Heute ist das anders. Jedes Landeskriminalamt will sich gerne mit der Aufklärung von spektakulären Fällen schmücken.

Noch können sich die Wiesbadener OFA-Spezialisten über Mangel an Arbeit nicht beklagen. Wenn man sie wirklich ärgern will, fragt man deshalb eher danach, ob sie ihre Methoden von den FBI-Profilern abgeschaut hätten. Schon klar: Dank einschlägiger Krimiserien sowohl im Fernsehen wie in Buchform gibt es eine weit verbreitete Vorstellung von hochqualifizierten Spezialagenten, die zum Tatort gerufen werden, wenn die Feldwaldundwiesenpolizei nicht weiter weiß. Dann schnüffeln sie an der Leiche, und vor ihrem inneren Auge entsteht der Phänotyp des gesuchten Täters, natürlich ein Serienkiller. Diese Melange aus Intuition plus psychologischer Intelligenz war und ist stilbildend für die kriminalistische Fiktion seit Edgar Allan Poe.

Die Realität brauchte über hundert Jahre, bis das Berufsbild des Profilers sich der fiktiven Vorlage anzunähern begann. Die Profilinggeschichtsschreibung will es, dass der Psychiater James A. Brussel den „Mad Bomber“, der 1957 ganz New York schlottern ließ, als katholischen, ledigen, untersetzten Einwanderer im geknöpften Zweireiher beschrieb. Als der Bombenleger festgenommen wurde, stimmten Brussels Angaben Punkt für Punkt, sogar einen Zweireiher trug der Gefasste.

Von weiteren Erfolgen dieser Art berichtet die Legende merkwürdigerweise nichts. Offenbar war Psychologie und Verbrechensanalyse in der Polizeiarbeit bis in die Siebzigerjahre kein Thema mehr. Aber dann begann Robert Ressler im National Center of Violent Crime, Quantico, Virginia, damit, Serientäter zu interviewen. Der FBI-Agent katalogisierte die Antworten, die dazugehörigen Fälle – und fand Korrelationen: etwa, dass die Leichen umso verstümmelter waren, je weiter sie vom Wohnort des Täters entfernt waren. Wem die Beschreibung Resslers vertraut vorkommt: Er war Vorbild des Lehrers von Jodie Foster alias Clarice Starling in Jonathan Demmes Film „Das Schweigen der Lämmer“ von 1991. Der Film auf der Grundlage eines Buches von Thomas Harris gilt seither als Urfilm des Profilergenres.

Es war jedoch weniger Ressler selbst als sein Kollege John Douglas, der aus seiner Profilertätigkeit Ruhm und Ehre schindete, indem er seine Arbeit in reißerischen Biopsychoreports verpackte: „Die Seele des Mörders. 25 Jahre in der FBI-Spezialeinheit für Serienverbrechen“ aus dem Jahre 1995 zum Beispiel. Versetzt sind diese Erinnerungs- und Fantasiecollagen mit einschlägigen Profilerweisheiten, anspielend unter anderem auf den Topos vom Verbrechen als Kunst (und dem Ermittler als Kunstsachverständigen): „Will man den Künstler verstehen, muss man sich sein Werk ansehen.“ Und: „Verhalten spiegelt Persönlichkeit.“ Oder: „Versetz dich in die Position des Jägers.“

Bei Douglas und in der literarischen Fiktion etwa von Bestsellerautorin Patricia Cornwell, die sich an seinen Vorlagen orientiert, kommen die Täter direkt aus der Hölle, sind Vertreter des Bösen, das zu einer negativen Kulturform wird, wuchernd, Respekt gebietend.

Der Horizont beim BKA ist ganz anders abgesteckt. „Die Welt ist nicht voller Monster“, sagt Witt. In Deutschland nicht und auch nicht in Amerika. „Es ist noch nicht einmal statistisch nachzuweisen, dass es in den USA mehr Serienkiller gibt als anderswo.“ Aus den Äußerungen ehemaliger FBI-Beamter sprächen Vorstellungen, die den Blick der Fahnder eintrüben dürften: „Ein anal eingeführter Finger wird da schon einmal zu einer rituellen Handlung“, die auf das Gemüt eines gewissenlosen Sadisten schließen lasse, sagt Witt. Wer aus solchen Interpretationen sich ein Monster zusammenbastle, vertrete dann auch folgerichtig die Todesstrafe – so wie Douglas es offensiv tut.

Doch nicht nur die Selbstvermarktung, verschränkt mit einem puritanischen Weltbild, sorgt in Wiesbaden für abschätzig geschürzte Mundwinkel. „Die wissenschaftlichen Methoden bei den oft zitierten Untersuchungen der Amerikaner stimmen nicht“, sagt Baurmann. So sind beim FBI etwa Gespräche mit Tätern die Grundlage der psychologischen Erkenntnisse über Serienmörder. Aus diesen Interviews hat das FBI seine Typologie abgeleitet, wonach zwischen dem planenden (organized) und dem nichtplanenden (disorganized) Täter zu unterscheiden ist.

Bei seinen Ermittlungen geht das FBI grundsätzlich von diesen Prototypen aus. Unnötig zu erwähnen, dass es die Gestalt des vermeintlich hochintelligenten, planenden Täters ist, der die Fantasie anheizt und so zu einer Art Ikone der verwalteten Gesellschaft geworden ist: das Monster als das Böse schlechthin, dessen Grausamkeit organisiert in Serie geht. Die Figur des sadistischen Serienmörders hat dem Profilermythos als Vehikel gedient: Die schlaue Killerbestie ist der Spiegel, das Abziehbild des heldischen lonesome riders von der Kripo, ebenfalls ein Superhirn, das sich mit dem Mörder misst.

Es ist fahrlässig, mit solch einem Anspruch zu arbeiten“, sagt Harald Dern. Er vermutet, dass die FBI-Typologie ein Produkt des Wunsches ist, den Profilermythos zu bedienen. Denn „nach unseren Erhebungen“, erklärt Baurmann, „macht die Aufteilung in organized und disorganized überhaupt keinen Sinn: Wir haben fast nur Mischtypen festgestellt.“

Überhaupt führe die Konzentration auf den Täter, sagt Baurmann, in die Irre. Natürlich ist die OFA auch dazu da, Täterprofile zu erstellen. Doch die Vermutungen, die das BKA-Team über den Täter anstellen kann, gehen selten über Alter und Wohnort hinaus – wie im Fall Christina Nytsch. Spekulationen wie Harald Derns CB-Funker-Verdacht spielen gewöhnlich keine Rolle.

Kernstück der Arbeit ist es vielmehr, erst einmal ein Tatprofil zu erstellen, die Tat bis ins Detail zu rekonstruieren. Jeder einzelne Handlungsschritt wird Sekunde für Sekunde nachvollzogen. „Manchmal“, sagt Trautmann, während die Männer beginnen, illustrierend mit den Armen in der Luft rudern, „verbringen wir Stunden um Stunden nur damit, mögliche Arm- und Oberkörperbewegungen des Opfers anhand etwa von Einstichen nachzuvollziehen.“

Solchen Übungen dient Püppi, eine Puppe in Lebensgröße, aber auch das Team selbst stellt in verteilten Rollen den möglichen Tathergang so lange nach, bis alle Spuren restlos in ein Ganzes, ein Bild des Hergangs eingeordnet sind. „Wenn wir dann vor der Sonderkommission, der Soko, am Ort stehen, können wir denen eine befriedigende Version der Tat anbieten, wie sie sich wohl zugetragen hat“, sagt Witt. Er und die anderen OFA-Leute betonen, dass sie keine Fälle „lösen“, sondern lediglich Hilfe leisten, Anregungen geben, den Täterkreis einengen, die ermittelnden Beamten vor Ort „unterstützen“.

Was die Arbeit des BKA von der lokaler Behörden unterscheidet, ist vor allem: Zeit. Und Ruhe. „Wir können uns drei oder vier Tage zurückziehen, sitzen dann von acht bis acht hier beisammen und haben die Muße nachzudenken“, sagt Baurmann. Sokos dagegen müssen schnell Ergebnisse vorweisen und eine Fülle von Aktivitäten in kurzer Zeit koordinieren. So kommen sie oft nur zu unvollständigen Chronologien eines Falles und neigen zu analytischen Kurzschlüssen, wenn die Spuren nicht zusammenpassen. Insofern hat die OFA eine Lücke zu schließen.

Während die Länderinnenminister Hundertschaften von kleinen Beamten telegen durch Wald und Flur stapfen lassen, um einen Mörder etwa mit dem Namen Frank Schmökel zu finden, geht man in Wiesbaden erst mal in Klausur. In den Ländern, sagt Dern, stünden die Einsätze zunehmend im Zeichen von Effektivität und Kostendruck. Das noch relativ neue Rotationssystem im Berufsweg der Polizei führe dazu, dass Beamte zwar viele Stationen im Polizeiapparat aufweisen können, jedoch nie lange Gelegenheit haben, Erfahrungen in einem Gebiet zu sammeln. „Immer öfter treffen wir auf Sokos ohne optimale kriminalistische Ausbildung“, sagt Dern. „Die alten Hasen sterben aus.“

Umso dramatischer wird es, wenn sich manche so aufführen, als wären sie welche. Es muss am Profilermythos liegen, wenn ein „Amateurprofiler“, wie kürzlich in Frankfurt am Main geschehen, sich lediglich ein paar Tatortfotos eines Mordes an einer Prostituierten anschaut, die Stirn runzelt und öffentlich verkündet, es handle sich beim Mörder offenbar um einen sadistischen Täter, der wieder zuschlagen werde. Die Aufregung war groß, das Milieu durch den Medienauftrieb verschreckt, weitere Ermittlungen im Umfeld nahezu ausgeschlossen.

Die Klischees vom genialen „Profiler“ werden nicht nur von den amerikanischen Stars gepflegt. Auch in Europa gibt es Ermittler, die nichts dagegen haben, als lonesome rider dargestellt zu werden, als Männer, die schwierige Fälle praktisch im Alleingang lösen – und die ihren Kollegen die Arbeit dadurch erschweren, indem sie zu einer verzerrten Darstellung ihres Metiers beitragen.

So gab der Wiener Kriminalpsychologe Thomas Müller erst kürzlich zu Protokoll: „Wer oft mit Monstern kämpft, muss aufpassen, dass er nicht selber eines wird.“ Müller gilt als Pionier des Profiling in Europa. Über Österreich hinaus bekannt wurde er durch den Fall der so genannten Bajuwarischen Befreiungsfront, die in den Neunzigerjahren mehrere Briefbombenanschläge verübte, bei denen vier Menschen getötet und dreizehn verletzt wurden. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei der „Befreiungsfront“ um Franz Fuchs, einen Einzeltäter.

Als er schließlich verhaftet wurde, erwies sich das von Müller erstellte Täterprofil als zutreffend. Tatsächlich war Fuchs ein allein stehender Mann um die fünfzig, ordnungsliebend, wohnhaft in einem Einfamilienhaus – sechzehn der achtzehn Vorgaben im Täterprofil stimmten überein. Aber eine solch erfolgreiche Soloanalyse ist rar. Auch Müller ist seitdem kein vergleichbarer Coup mehr gelungen.

Heldengeschichten wie die des Österreichers hören die deutschen Fallanalytiker nicht gern. Nicht so sehr aus Bescheidenheit. Sondern auch, um nicht allzu hohe Erwartungen zu wecken und um sich nicht unter Erfolgsdruck zu setzen. OFA und die Datenbank ViCLAS („Violent Crime Linkage Analysis System“) seien „keine Wunderwaffen“, betonte der zuständige Beamte des Berliner Landeskriminalamts bei einer Pressekonferenz im März, „mit schnellen Erfolgen ist nicht zu rechnen“. Ähnlich wie die Kollegen in der Wiesbadener BKA-Zentrale erklärte auch der Berliner OFA-Chef Gerd Hasse, seine Arbeit habe „nichts mit Kaffeesatzlesen oder Wunderkugeln“ zu tun.

Fallanalyse, das betonen alle deutschen Praktiker, ist ein mühsames Geschäft – und immer Teamarbeit. Der Weg von der Idee über die ausgesprochene Vermutung bis zum Vortrag bei der Soko und vielleicht sogar bis zur Pressekonferenz ist lang und kompliziert. Jede Vorstellung über Tat und Täter wird seziert, von allen Seiten auseinander gezupft, und am Ende kommt immer auch eine Erkenntnis über eigene Vorurteile und Klischees heraus.

Im Fall Christina Nytsch etwa stritt sich das Team nicht nur über Harald Derns CB-Funk-Theorie, sondern auch über das so genannte Opferrisiko des Mädchens. Sie hatten sich schildern lassen, wie selbstbewusst und mutig Christina war. Aber war es nicht trotzdem merkwürdig, dass sie „durch unbebautes Gebiet in der Dämmerung mit dem Fahrrad über eine Nebenstraße nach Hause fuhr?“ Wie war sie dahingekommen? Hätte sie auf dieser Strecke nicht Angst haben müssen? „Als Stadtmenschen“, erklärt Witt, „hätten wir davon ausgehen können, dass das Mädchen Risikoverhalten an den Tag legte.“

Auch in anderen Fällen würden Erwachsene aus der Stadt sofort die Augenbrauen hochziehen, wenn ein Kind allein im Wald, an einem See spielt. Der Clou aber sei, so Witt: „Auf dem Land ist das total normal. Es handelt sich bei der Risikoeinschätzung um ein Produkt unserer eigenen Ängste.“ Gerade bei der Frage des Opferrisikos, sagt Baurmann, „reden Ermittler erst einmal über ihre eigene Lebensangst, ohne es zu merken“. Das Beispiel mit den Land- und Stadtmenschen, die das Risiko, sich in der Landschaft zu bewegen (während umgekehrt die Landmenschen jede Straßenkreuzung mit Kiosk in der Stadt für einen gefährlichen Ort halten), grundsätzlich unterschiedlich einschätzen, ist dabei nur besonders plakativ. Die Einschätzung, was Risiko bedeutet, von wo Gefahr droht, ist die je subjektive, ureigenste Grundlage jedes Urteils über das Verhalten anderer.

Wer wo bei Rot über die Straße marschiert und damit wie viele Leute in Gefahr bringt, das wird von fünf verschiedenen Leuten fünf Mal unterschiedlich bewertet. Wobei Polizisten vermutlich die größten Gefahren herbeizureden im Stande sind: Darauf, eigene Ängste durch scheinbar rationale Analyse von Gefahrensituationen gleichzeitig zu verdecken und zu multiplizieren, sind sie geschult. Angst aber muss reflektiert sein. „Alle müssen ein Bewusstsein der eigenen Risikoeinschätzung haben“, erklärt Baurmann. Wer das übersieht, „für den lauert das Risiko überall“.

Und darum geht es: Nicht in Stereotypen denken, nicht nur wie ein Polizist denken. Nicht überall das Risiko sehen, nicht nur über den Täter mutmaßen. Nicht nur nur Beweise sammeln für eigene Vermutungen. Sondern über Wahrscheinlichkeiten nachdenken: Wie etwas vor sich gegangen sein könnte, was eine realistische Variante von Wirklichkeit wäre. Fließende Übergänge sehen, wenn der Ermittlungsdruck und die Forderung der Öffentlichkeit nach rascher Klarheit den Blick grob zu rastern drohen. „Auch wir arbeiten auf der Grundlage des kriminalistischen und kriminologischen Denkens“, sagt Baurmann, „aber in gewisser Weise machen wir hier das Gegenteil von dem, was die Polizei macht.“

In den Abschlussbericht des OFA-Teams zum Fall Christina Nytsch wurde die These vom CB-Funker nicht aufgenommen. Dort haben „wilde Ideen“ nichts zu suchen. Vermutetes Alter und Wohnort waren genug, um den Täter aus achtzehntausend Männern durch einen Abgleich ihrer genetischen Fingerabdrücke mit Spuren vom Tatort zu ermitteln.

Christina Nytschs Mörder kam, nach Druck durch seine Familie, zum DNA-Test. Er war CB-Funker.

ULRIKE WINKELMANN, 29, ist seit Januar 2000 taz-Chefin vom Dienst; LUKAS WALLRAFF, 30, ist seit März 2000 taz-Inlandsredakteur