Fluchtpunkt Mückenschwarm

Einmal Berlin – Winterthur und zurück: In „Remake Berlin“ wird die Fernwirkung des Mythos Berlin getestet. In der Fotoausstellung, die in der daad-Galerie und beim NBK zu sehen ist, treffen Posen der Macht auf trotzige Immigranten

In der Fremde leuchtet das Klischee unbefangener als daheim. Von Winterthur in der Schweiz aus betrachtet setzt sich Berlin aus der neuen Klasse der Politiker und osteuropäischen Immigranten zusammen. Hart prallen ihre Porträts in der Ausstellung „Remake Berlin“ aufeinander, die im Auftrag des Fotomuseums Winterthur entstand und nun auch in Berlin zu sehen ist. Reiches reibt sich an armer Ästhetik, üppige Inszenierung an nacktem Realismus. Clegg & Guttmann, die in Köln und New York operieren, haben den politischen Olymp Berlins inszeniert: Senatoren der Stadt und Minister des Bundes saßen ihnen vor schwarzem Tuch in der Pose der natural born politician. So viel Aura war nie, die von Künstlerhand inszenierte Machtfülle schmeichelt den Politikern wie noch keine Werbeagentur zuvor.

Ihnen gegenüber hängen in den Räumen des Neuen Berliner Kunstvereins die frontal abgelichteten „Berlin Portaits“ der holländischen Fotografin Céline von Balen. Sie hat ihre Modelle, junge Frauen und Männer, mit dem Objektiv fast an die Wand gedrängt; ihr trotziger Blick stößt uns aus dieser aufdringlichen Nähe zurück. Etwas darzustellen, erlaubt ihnen die Fotojagd nicht; gerade mal auf ihrer nackten Existenz zu beharren. Aus dem Katalog erfahren wir, dass es sich um junge Zuwanderer aus Osteuropa handelt.

Einen Raum weiter kommt das Berlin der Stadtränder und Baustellen. Der Berliner Frank Thiel hat in den Fassadenteilen, die als Muster neben Baustellen aufgebaut werden, eine Chiffre für die Kulissenschieberei der Stadterneuerung gefunden. Das Motiv, das auch schon andere Künstler aufgegriffen haben, setzt die Mittel der architektonischen Kosmetik so eins zu eins ins Bild, dass jeder Kommentar überflüssig scheint. Etwas mehr Fantasie braucht man da schon zur Entschlüsselung der Bilder des Engländers Stephen Wilks, der Fundstücke des Marginalen ausbreitet. Sein Minimalismus lässt das Leben zu Seufzern zusammenschnurren: Scherben auf einem Gitter, ein entsorgter Kühlschrank auf dünn verschneiter Fläche, ein Mückenschwarm. In Berlin, das verraten seine Bilder, steht die Zeit genauso still wie anderswo.

Angestiftet zu diesem Projekt wurden gelernte Berliner und durchreisende Künstler von Urs Stahel aus dem Fotomuseum Winterthur und der Berliner Kuratorin Katrin Becker, die schon oft osteuropäische Künstler nach Berlin gebracht hat. Diesmal exportiert sie den Ruf der Stadt, hübsch ironisch, aber auch eindeutig verpackt. Schwer Lesbares oder gar Kunst, die von der Eitelkeit der Stadt nichts mehr wissen will, hatte in diesem Projekt nichts zu suchen – „mitlanciert und ermöglicht“, wie es elegant im Katalog heißt, wurde das Berlinpaket von einer Züricher Bank. Dafür wurden auch sechs Autoren eingeladen, unter ihnen Paul Virilio, Monika Maron, Thomas Kapielski, Emine Sevgi Özdamar. Ihre Texte, die sich gern in die Ecken von Berliner Hundehaltern, Lichtenrader Biertrinkern und Dönerbuden verkrümeln, schwimmen auf den großen Buchseiten wie Gummienten im Haifischbecken. Nichts kann Berlin besser, murmeln sie unisono, wie Erwartungen unterlaufen. Man freut sich, so gar nicht mehr großartig zu sein, denn alles Große wurde hier stets übel besetzt.

Das kennzeichnet auch die sympathischste der Fotogeschichten von Boris Mikhailov aus der Ukraine, der inzwischen auch in Berlin mehr als nur eine Fußballwiese kennt. Er zeigt ein Panorama von Schloss Bellevue und regt an: „Könnte das Berliner Fussballteam hier trainieren, sein Erfolg wäre sichtbarer.“ Mit seiner Frau posiert er als Adam und Eva unter einem Baum, den Fußball als Apfel der Erkenntnis in der Hand. Er hat Kicker fotografiert, die kaum über den Ball gucken können, und Fans, die für nichts anderes Augen haben. Seine Ethnologie des Fußballs in Berlin kennt Grünhaarige, Rothaarige, Nackte und Scheintote. Er hat entschieden mehr Leben in der Stadt entdeckt als Jürgen Teller, der sich irgendwo in der Clubszene rumtrieb und in ausgebleichten Fotos das Ende der Verausgabung verarbeitet.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Bis 29. 4., Neuer Berliner Kunstverein und daad-Galerie, Berlin. Der Katalog, 235 Seiten, Steidl Verlag, kostet 58 DM