Die Ödnis unausgefüllter Zeit

Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen, Teil II: Durchlassen oder nicht? Das Verhängnis der Privatregeln

■ Niemand will Behinderten Böses. Aber wie ist es in unserer Gesellschaft wirklich bestellt um den sachgerechten Umgang mit Menschen, die Versorgung brauchen? Dieser Frage geht diese Serie nach. Sie handelt – durchaus streitbar – von der pflegerischen Kompetenz jenseits von Pädagogik und Integrationswut

von PETER FUCHS

Das Zusammenleben der Menschen ist geprägt von Regeln. Meistens funktioniert das stillschweigend. Kaum jemand drückt seine Zigarette in der Kaffeetasse seines Nachbarn aus. Es gilt als unzivilisiert, wenn man als Mann die Damentoilette aufsucht, und auch der umgekehrte Fall erregt Erstaunen. Man gähnt niemandem ins Gesicht, bezahlt im Supermarkt große Beträge nicht nur mit Pfennigen, feilscht nicht um den Preis einer Schachtel Zigaretten. Es gibt wichtige Regeln, die man nicht ungestraft verletzt, weniger wichtige, deren Missachtung ihrerseits soziale Missachtung zur Folge hat, und ganz und gar unwichtige, die einem das Leben schwer machen und die man nur einhält, weil man aus unerfindlichen Gründen meint, es zu müssen. Ich nenne sie hier einmal die privaten Regeln.

Ihr Problem besteht darin, dass sie einerseits privat sind (jemand meint für sich, etwas müsse so oder so sein), andererseits verallgemeinert werden (was für mich gilt, muss für alle gelten). Die abstrakte Form dieser Regeln lautet: Man macht das so! Und ihr verborgener Sinn ist: Ich mache das so, deshalb müsst ihr das auch so machen! An private Evangelien dieser Art hat man sich sozial gewöhnt. Als voll sozialisiertes, vernünftiges Subjekt weiß man sich dagegen zu wehren, je nach Intelligenz und Alter auf einer Bandbreite zwischen Bockigkeit und Ironie. Man wehrt sich insbesondere dann, wenn einem der Sinn der fremden Privatregel nicht einleuchtet. Sie wird zur Zumutung.

Allerdings kann sich nicht jeder gegen Zumutungen dieser Form durchsetzen. Wer es ganz sicher nicht (oder es nur mit Formen der Hilflosigkeit) kann, das sind schwer geistig und mehrfach behinderte Menschen. Sie müssen das Privatregelwerk der Leute ertragen, von denen sie abhängig sind. In einem Heim zum Beispiel arbeitet eine Gruppe männlicher und weiblicher Betreuer. Sie sind davon überzeugt, dass der Mensch sauber zu sein hat. Er muss sich waschen, er muss täglich duschen, seine Haare sollen locker und aprilfrisch wehen. Wichtig ist, dass die Ohren sauber sind und die Fingernägel keine Trauerränder haben. Die Behinderten, die in dem Heim leben, sind zwischen 12 und 18 Jahre alt. Sie haben sich daran gewöhnt, dass sie oft gewaschen werden oder sich, wenn sie es können, selbst waschen sollen. Die Mitarbeiter/innen, denen es so leidenschaftlich um die Sauberkeit der ihnen anvertrauten Behinderten ging, beschlossen, diese ihnen heilige Angelegenheit nicht unkontrolliert zu lassen. Die Architektur des Hauses kam ihnen entgegen: Im Erdgeschoss befanden sich Werk- und Funktionsräume und die Büros der Hausleitung; im zweiten Stock lagen die „Stationen“ mit den Schlafräumen; im dritten Stock waren Freizeiträume, das Fernsehzimmer und ein Spielzimmer, in dem sich übliche und sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten wie Kickerautomat und Fernsehgerät vorfanden.

Es traf sich, dass im zweiten Stock eine Glaswand mit einer Tür war, die als einzige in den Freizeitbereich führte. Was lag näher, als sich dort zu postieren und die Behinderten abzufangen, die nach oben wollten? Damit eröffnete sich eine Doppelchance: Einmal konnte man jeden kontrollieren, der nach oben wollte (und zum Fernsehen wollten alle), dann konnte man diejenigen, die die Fingernägel oder Ohren nicht reinlich vorwiesen, zurückschicken zum Waschen, eine erste etwas schwächere Sanktion, und wenn sie gar trotzig waren und den Sinn jener Regel nicht einsahen, war es möglich, sie einfach ins Bett zu schicken oder sie durch einen Zivildienstleistenden ins Bett bringen zu lassen. Was ist daran schädlich? Schließlich ist Sauberkeit doch ein Wert ...?

Wir könnten an dieser Stelle natürlich über die Würde des Menschen verhandeln. Aber da diese Würde weniger unantastbar als unfassbar ist, beschränken wir uns auf Einfaches:

1. Durch die Regel und ihre Kontrolle wird eine Konfliktquelle ersten Ranges geschaffen, die täglich aufs Neue sprudelt.

2. Die Regel und ihre Kontrolle ermöglichen ein Spiel der Macht.

Vor allem dieses Spiel der Macht ist bedenkenswert. Zunächst sind Menschen ja nicht im Normalfall objektiv. Was für den einen schon schmutzig ist, ist es für den anderen noch lange nicht. Dann lassen wir uns häufig von Sympathien leiten. Wir mögen manche Menschen, andere mögen wir nicht. Der kräftige Kerl dort mit dem Down-Syndrom ist einfach knuffig. Lassen wir ihn durch! Der junge Mann mit dem blassen, verpickelten Gesicht, der ständig auf seinen Händen kaut und dessen Hemd feucht von Speichel ist und sauer riecht, er soll sich auf alle Fälle noch einmal waschen. Schließlich haben wir noch einen sicheren Instinkt für Gefahren. Einige der von uns Betreuten können ziemlich wütend werden. Da ist es schon besser, etwas zu übersehen. Aber ob wir nun durchlassen oder nicht durchlassen, was sich auf alle Fälle genießen lässt, ist die Dispositionsmöglichkeit selbst: Daumen rauf, Daumen runter, und alles gedeckt durch eine Regel, die sinnvoll erscheint. (Zwischenhinweis zur Machtausübung: Vermeiden Sie jede Chance zur Machtausübung. Schaffen Sie keine Lage, in denen Sie, vorher absehbar, dazu genötigt werden könnten, Macht einzusetzen. Vergessen Sie nie, dass eine Macht, die man beweisen muss, verloren geht. Wenn ein Regime Panzer auffährt, ist es fast am Ende. Denken Sie immer daran, dass Sie anfällig sind für die Verführung durch die Macht. Schließlich macht es Spaß, der Boss zu sein. Im Übrigen gilt es als schändlich, seine Autorität an Hilflosen zu erproben. Souveränität ist gekennzeichnet durch Lockerheit, auch durch die Fähigkeit, Umwege zu gehen und Abweichungen zu ertragen, vor allem aber durch Humor.)

Eine Betreuerin in einem Wohnheim ist in ihrer Freizeit Sportlerin. Das sieht man ihr auch an. Sie hat einen wohl trainierten Körper, einen kräftigen Nacken, kleidet sich zweckmäßig, verabscheut das Rauchen und Zeitverschwendungen jeder Art. Sie ist eine Frau, die für Gesundheit ist, für Abhärtung. Und sie ist gegen jeden modischen Schnickschnack. Einfach sei der Mensch, sportlich und gut. Diese Frau beklagt, dass die Bewohner des Heimes eine furchtbare Marotte haben. Wenn der Kiosk beim Haupteingang geöffnet wird, bilden sich endlose Schlangen. Warum? Wegen Cola, Schokolade und Zigaretten. „Da verschwenden sie ihr ganzes Geld, das sie doch auch sparen könnten!“, sagt sie und verwendet ihr ganzes erzieherisches Können darauf, die Bewohner von diesem Missbrauch abzubringen. Sie beginnt, das ohnehin knappe Geld der Leute haushälterisch auszuteilen. Sie schimpft mit denen, die rauchen. Sie bemüht sich, den Verzehr von Süßigkeiten zu verhindern.

Die Regel der Frau ist simpel. Gelobt sei, was gesund hält; verboten sei, was (außer ihr) den anderen Spaß macht. Auf ihre schlichte Weise hat die Betreuerin Recht, aber sie übersieht einiges, zum Beispiel, dass die Zeit der Behinderten selten erfüllte Zeit ist. Sie ist Zeit, die durch die ödesten Wiederholungen gekennzeichnet ist, eingespannt in immer gleiche Tagesabläufe. Es ist Zeit, die nur begrenzt Perspektiven mit sich führt. Wer spart, muss zum Beispiel einen Zeithorizont haben. Er muss sich vorstellen können, dass er in zwei Jahren und vier Monaten eine tolle Hi-Fi-Anlage haben kann, wenn er jeden Monat von den 90 Mark, die er verdient (wenn er verdient), 40 Mark zurücklegt. Das ist nicht einfach.

Aber immerhin, die Betreuerin will nur das Beste. Das dürfen wir nicht vergessen. Aber sie sollte nicht vergessen, dass ein öder Ablauf der Zeit dazu führt, dass bestimmte Ereignisse als Abwechslungen empfunden werden, zum Beispiel das Öffnen eines Kiosks, der Erwerb einer Cola, eines Comics, einer Schachtel Zigaretten. Vielleicht wäre es nützlich, wenn unsere Betreuerin einmal ausprobiert, was man die Ödnis unausgefüllter Zeit nennen könnte. (Zwischenhinweis zur unausgefüllten Zeit: Versuchen Sie sich vorzustellen, wie es ist, wenn die eigene Zeit weit gehend fremdbestimmt ist. Machen Sie folgendes Experiment: Lassen Sie sich von einem Bekannten die Zeit bestimmen. Wann Sie aufstehen, wann Sie frühstücken, wann Sie sich waschen, wann Sie trinken, wann Sie das Haus verlassen, all dies und mehr soll der Bekannte entscheiden. Wenn Sie etwas wollen, müssen Sie ihn fragen. Wichtig ist: Sie dürfen nicht lesen. Nach kurzer Zeit wird mindestens dies geschehen, dass Ihnen die Decke auf den Kopf fällt. Sie werden nach Abwechslung gieren. Sie werden sich Cola wünschen. Bei alledem müssen Ihre finanziellen Mittel sehr begrenzt sein. Natürlich ist der Kühlschrank verschlossen und der Schlüssel in der Tasche Ihres Bekannten. Sie werden erleben, was Zeit ist, und wenn Ihnen endlich erlaubt wird, an einem Kiosk einzukaufen, dann würden Sie sich in jede Schlange einreihen. Sie würden das genießen. Kurzum: Versetzen Sie sich in die Lage von jemandem, dessen Zeit- und Lebensbewandtnisse sehr viel anders sind als die Ihren.)

Bleiben wir bei unserer sportlichen Betreuerin. Als ich im Rahmen einer Supervision mit ihr sprach, berichtete sie mir, dass sie sich wie die Mutter der Kompanie fühle. Sie strahlte dabei wie ein bullernder Ofen. Auf meine Nachfrage sagte sie, dass dies heiße, sich um alles kümmern zu müssen. Das verschaffe ein warmes Gefühl. Wem?, fragte ich. Allen, ihr und den ihr Anvertrauten, erwiderte sie. Tatsächlich kümmerte sie sich um alles. Da sei zum Beispiel eine behinderte vierzigjährige Frau, eine furchtbar aufgetakelte Frau. Sie trage geblümte Röcke, die viel zu kurz seien für ihre, höflich gesprochen, etwas stämmigen Beine. Sie habe einen schwarzen Lieblings-BH, ein wüstes und aufdringliches Stück. Außerdem schminke sie sich. Nicht nur dass sie sich schminkte, erfuhr ich, war fatal, sondern auch die undezente Weise, in der sie es tat. Beim Parfüm etwa tupfe sie nicht ein Weniges hinter ihre Ohren, sondern reibe sich den Nacken ein. Entsprechend stänke sie dann. Aber das habe sie ihr ausgetrieben. Jetzt kleide sie sich angemessener und verwende auch kaum noch etwas von dem chemischen Krimskrams, um sich zu schminken. „Das hat mich ein Jahr harter Arbeit gekostet!“, sagt sie, „aber es hat sich gelohnt!“

Die Frage ist selbstverständlich, für wen sich die harte Arbeit gelohnt hat und wer womöglich unter dieser Arbeit zu leiden hatte. Immerhin haben wir einiges über die Betreuerin gelernt. Sie hat etwas gegen geblümte Röcke, sie hat etwas gegen kurze Röcke, und sie hat etwas gegen dicke Beine. Sie hat etwas gegen Reizwäsche, und sie hat etwas gegen Schminken. Sie hat etwas gegen Parfümgeruch, den man bemerken kann, sie hat etwas gegen Chemie. Sie hat etwas gegen Süßigkeiten, gegen Cola und gegen Zigaretten. Wenn die Behinderten Pech haben, hat sie auch etwas gegen Fleisch. Man sollte denken, dass die Betreuerin selbst einige Probleme hat, aber die sind nicht unser Problem, sondern das Problem derer, deren Leben sie gestalten darf. Das Seltsame ist, dass die Betreuerin sich über alle möglichen Menschen im Stillen ärgern mag, weil die Röcke zu kurz sind und weil die Beine zu dick sind und weil ... Aber sie käme wohl kaum auf die Idee, irgendjemanden (es sei denn, den eigenen Kindern) ihre eigenen Ideen vom richtigen Leben aufzudrängen.

Aber hier im Wohnheim, da kann sie es. Und wer würde ihr schon widersprechen?