Mutterschaft in Rock

Mit den Throwing Muses lieferte Kristin Hersh die Blaupause für die selbstbewussten Musikerinnen von heute. Die Medicated Muse bleibt auch als Solo-Künstlerin beim Stilprinzip der Selbstentblößung

von THOMAS WINKLER

Im Frühstücksraum einer kleinen Pension in Ku’damm-Nähe spielt ein Dreijähriger mit Bausteinen. Er heißt Wyatt und wird mit Apfelsaft bei Laune gehalten. Wyatts Vater heißt Billy und versucht gerade, eine Verbindung nach Seattle zu bekommen. Dorthin ist die Familie kürzlich umgezogen. Durch die Gardinen des Frühstücksraums dringt das trübe Licht eines grauen Berliner Wintertages.

In einem der hinteren Zimmer der Pension arbeitet heute Wyatts Mutter. Kristin Hersh beantwortet dort Fragen zu Bedeutungen und Beziehungen, zu Kunst und Krankheit, zu Musik und Mutterschaft. Denn Kristin Hersh ist Mutter dreier Söhne. Diese Tatsache ist hier in diesem Frühstücksraum nicht zu übersehen, auf ihrem neuen Album aber auch nicht zu überhören.

Das heißt „Sunny Border Blue“ und auf ihm verschränkt sich das Leben so erfolgreich mit der Kunst, dass einige Menschen aus Hershs direktem Umfeld „sich sehr verletzt fühlten“. So Ehemann Billy und die Mitglieder ihrer ehemaligen Band Throwing Muses, mit der Hersh in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre eine feste Größe des amerikanischen Gitarrenrock war. Allerdings sind die Texte von Hersh so vage, dass es noch viel öfter vorkommt, dass sich Menschen angesprochen fühlen, die gar nicht gemeint waren.

Ein Effekt, den Hersh gut kennt. Die Throwing Muses riefen einerseits abgöttische Verehrung, andererseits Verachtung hervor. Ende der Achtziger, in Zeiten, als auch die Independent-Szene noch eindeutiger männlich dominiert war, agierten die Muses zusammen mit verwandten Bands wie Belly oder den Breeders zwar nicht ausdrücklich feministisch, aber verweigerten sich erfolgreich den für Frauen vorgesehenen Vermarktungsmechanismen, indem sie sich in erster Linie als Musikerinnen sahen und nicht als Frauen. „Ich hasse die Vorstellung“, sagt Hersh noch heute, „ich würde nur Songs für Frauen schreiben.“ So wurden die Muses zu Vorläuferinnen für aktuelle, kommerziell ungleich gewinnträchtigere Modelle wie Liz Phair, Alanis Morissette, Tori Amos oder Sheryl Crow.

Auch die Selbstentblößung ihrer Nachfolgerinnen hatte Hersh mit den Muses vorweggenommen, deren Erfolg allerdings führte später zu absurden Situationen. Immer wieder, so erzählt Hersh, wird ihr von Radiosendern bescheinigt, man könne ihre Songs nicht spielen, weil schon zu viele Frauen die Playlisten bevölkerten. „Als würden sie so etwas jemals zu einem Mann sagen“, ereifert sich Hersh und wird fast kämpferisch: Das muss aufhören!“

Heute sind Hershs Pioniertaten nur mehr nahezu vergessene Legende. Aber sie hält die Kleinfamilie, die in ihren Songs verarbeitet wird, mit ebendiesen Songs über Wasser. Im Pkw mit Mann und Kind und Gitarre geht es von Auftritt zu Auftritt. Eine Band kann sie sich „schlicht nicht mehr leisten“. Damals reichten die Reaktionen auf die exaltierten, zum Kunstgewerblichen neigenden Songstrukturen der Throwing Muses von der Hoffnung, hier würde der Indie-Rock revolutioniert, bis zum Vorwurf, die Muses könnten ja gar nicht spielen und würden nur rumschreien. Man liebte oder hasste sie. Einmal zog gar jemand bei einem Konzert eine Waffe und richtete sie auf die damals noch pausbäckigere Hersh. Erst später stellte sich heraus, dass es sich nur um eine Spielzeugpistole gehandelt hatte. „Später“, erzählt Hersh, „fanden uns diese suizidgefährdeten Leute nicht mehr attraktiv. Oder sie hatten sich alle umgebracht.“

Kaum mehr als eine Anekdote im Vergleich zu den Prüfungen, die das Leben sonst für Hersh vorgesehen hatte: Die frühe Trennung der Hippie-Eltern, dann ein schwerer Autounfall, schließlich ein Gehirntumor, der Streit um das Sorgerecht mit dem Vater ihres ersten Sohnes Dylan und nicht zuletzt Bipolar Disorder, eine Art Schizophrenie, an der auch Brian Wilson, Axl Rose, Ray Davis und Francis Ford Coppola leiden. Eigentlich müsste sie ständig Medikamente nehmen, versucht aber ohne sie auszukommen. Rückfälle sind da unvermeidlich, werden aber immer seltener. Bevor die Krankheit diagnostiziert wurde, hielt sie sich selbst für besessen und ihre Songs für den Ausfluss des Teufels.

Eine Menge Stoff, aus dem eine Menge Songs entstanden. Die Londoner Times nannte sie einmal die „medicated muse“, aber Hersh hasst es, auf ihre Krankheit reduziert zu werden: „Ich mag diese Idee von Kunst aus Schmerz nicht, ich mag die Idee von Kunst als Hilfe.“ So sieht sie ihre Lieder, deren Texte sie nie niederschreibt, auch nicht mehr als ihr Eigentum, wenn sie einmal ihren Kopf verlassen haben. „Songs sind wie Kinder: Man wundert sich, wie sie so werden konnten, wie sie sind. Man sieht ihnen beim Wachsen zu. Man zieht sie auf, damit sie in die Welt hinausgehen können, und irgendwann kommen sie nicht mehr zurück.“

Noch heute quält sie sich mit Lampenfieber und Selbstzweifeln, bevor sie auf eine Bühne geht. Dort singt sie ihre Songs mit einer Stimme, die heute manchmal an die von Patti Smith erinnert. Deren „female anger“ allerdings, sagt Hersh mütterlich lächelnd, den habe sie lange schon überwunden.

Diese Milde führt zu einem fast entspannten, vorwiegend akustischen Sound, der kaum noch an die verzerrten Gitarren und Laut-leise-Stimmungsschwankungen der Throwing Muses erinnert. Auch die patentierten Kiekser und Schreie von damals sucht man im verträumten Folk von „Sunny Border Blue“ vergeblich. Hersh hat sich vom Girrrrlie mit Punkrock-Attitüde zur Singer/Songwriterin entwickelt, zu einer reifen Frau, wenn man so will. Eine Wandlung, die einem heute nicht mehr peinlich sein sollte. „Ehe und Mutterschaft sind viel mehr Rock ’n’ Roll als der so genannte Rock’ n’ Roll-Lifestyle“, sagt Hersh, „man muss nur eine Minute über die Rolling Stones nachdenken und sich fragen, wie cool die sind. Das ist altmodisch, dämlich, überholt und außerdem schlicht langweilig.

Ehe dagegen ist gewalttätig, leidenschaftlich, verrückt und laut. Und erst Mutter sein: Man ist verantwortlich für menschliches Leben, die können sich jeden Moment wehtun, die Hormone sind am Rotieren. Das ist so aufregend, das ist viel mehr Rock ’n’ Roll als mit Menschen ins Bett zu gehen, die einem egal sind. Im Rock ’n’ Roll ging es darum, an die eigenen Grenzen zu gehen, und das tue ich als Mutter und Ehefrau.“

Billy O’Connel, Vater, Ehemann und Manager in Personalunion, hat derweil endlich Seattle erreicht. Dort regnet es. Bestimmt.

„Sunny Border Blue“ (4 AD/Zomba)