Nach der Aktionärsversammlung

Man hat sicher mehr davon, sich ein Auto von DaimlerChrysler zu kaufen, als in die Aktien des Weltkonzerns zu investieren. Es ist höchstens eine Investition in den Lustgewinn, Jürgen Schrempp behaupten zu hören, er nehme die höchst merkwürdigen Aktionärssorgen ernst. Ein Kneipengespräch

von GEORG M. OSWALD

Völlig benommen von dem, was ich gesehen hatte, stolperte ich am Bahnsteig der U-Bahn-Station Kaiserdamm über Schultheiß’ Reisetasche, den ich in diesem Moment freilich noch nicht kannte. Ich stürzte aufs Knie, was weh tat, und Schultheiß half mir auf, wobei er sofort zu reden begann. Wenn ich ihn recht verstand, sagte er unter anderem: „Na, so hätte es aber mal lieber den Schrempp auf die Schnauze hauen sollen.“

Ich fand das nicht sonderlich witzig, auch nicht zutreffend, denn wie gesagt war ich gut sichtbar aufs Knie und eben nicht auf die von Schultheiß so bezeichnete Schnauze gefallen. Immerhin aber stellten wir auf diese Weise fest, dass wir beide gleichzeitig die Hauptversammlung der DaimlerChrysler AG verlassen hatten. Bevor ich mich, von meinem Sturz wieder erholt, auf den Weg machen wollte, streckte er mir seine sehnige, altersfleckige Hand entgegen und schnarrte: „Gestatten, Schultheiß, AAA.“ – „Aha.“ – „Nein, AAA.“ – „Allgemeine Automobil Assoziation?“, riet ich. „Nein, Aktionsgemeinschaft Akribischer Aktionäre“, sagte er, wobei sich seine Augen zu Schlitzen verengten. „Und Sie?“ – „Presse.“

Schultheiß wollte jetzt unbedingt einen mit mir trinken gehen, und da mir nichts einfiel, was dagegen gesprochen hätte, stimmte ich zu. Wir gingen in die nächste Eckkneipe, er kannte sich offenbar aus und war auch in dem Lokal gut bekannt. Die Bedienung sagte: „Aber heute benimmste dir anständig, Schulti, ja?“

Schultheiß war, wie er sagte, „Aktionär aus Leidenschaft“, er habe keine Daimler-Hauptversammlung seit 1974 ausgelassen, „doch, halt, zweiundachtzig! Zweiundachtzig, da hatte ich meine Blinddarmoperation. Aber sonst war ich immer dabei!“ Ich bekannte, für mich sei es heute das erste Mal gewesen.

„Haben Sie das Blau bemerkt?“, fragte Schultheiß. „Die blaue Beleuchtung im Eingangsbereich und an der Bühnenwand?“ – „Ja, das sah hübsch aus, und wirkte angenehm beruhigend. Der ganze Messesaal war in dieses Blau getaucht, sah aus wie in einer künstlichen Grotte.“ „Das ist nach modernsten psychologischen Gesichtspunkten gestaltet“, sagte Schultheiß, „die machen das, um die Aktionäre einzulullen. Haben Sie gesehen, was hinter Schrempp auf der Projektionswand erschienen ist, als er seine Rede gehalten hat?“ „Nein.“ – „Die Köpfe der drei Firmengründer, Gottlieb Daimler, Karl Benz, und Dings, Chrysler eben. Und die Kamera hat Schrempp so aufgenommen, dass sein Kopf auf dem Beamer während seiner Rede immer zwischen denen der beiden deutschen Urväter schwebte.“ Bei dem Wort Urväter hob Schultheiß beschwörend die geöffneten Hände zum Himmel. Das war mir nicht aufgefallen. Schultheiß hatte verdammt recht. Sollte damit etwa gesagt sein, Schrempp sei der einzig rechtmäßige Nachfahre von Gottlieb Daimler und Karl Benz? Das war so raffiniert, dass es nur einem erprobten Kämpfer wie Schultheiß auffallen konnte.

„Wollen Sie etwa sagen, die Aktionäre werden auf der Hauptversammlung verkohlt?“, fragte ich ihn. „Ach was, die Sache ist viel komplizierter. So kompliziert, dass wir noch ein Bier brauchen, um sie begreifen zu können.“ Ich begriff schon mal, dass die nächste Runde auf mich gehen sollte. Schultheiß bekam ein frisches Pils und nahm einen tiefen Schluck. Er musterte mich und fing an: „Passen Sie auf: DaimlerChrysler hat insgesamt 1,9 Millionen Aktionäre. 10.800 waren heute da. 40.000 wurden von den Banken vertreten. Und die übrigen 1,85 Millionen Aktionäre stimmen gar nicht. Trotzdem sind heute aber 37,5 Prozent des stimmberechtigten Kapitals vertreten gewesen. Und was schließen Sie daraus?“ – „Äh, tja, was schließe ich daraus?“ Ich rieb mir die Stirn. „Es ist eine Schande mit euch jungen Leuten. Kommt von der Uni und könnt nicht denken. Ist doch klar, was das bedeutet: DaimlerChrysler wird nicht von denen kontrolliert, die heute hier waren und gesprochen haben. Solange die Kuwaitis und die Deutsche Bank mitspielen, haben Schrempp und Kopper nichts zu befürchten.“ – „Aber warum geht dann überhaupt jemand zur Hauptversammlung?“, fragte ich Schultheiß. Er nahm aufrechte Haltung an: „Lassen Sie es mich in den Worten Hilmar Koppers sagen, dem Aufsichtsrat dieses unseres Unternehmens: ,Wir halten uns hier an das, was in Deutschland vorgeschrieben ist.‘ Und in Deutschland ist vorgeschrieben, dass wir einmal im Jahr eine Hauptversammlung durchziehen – Hilmar, Jürgen, und wir.“ – „Wer wir?“ „Na zum Beispiel wir von der AAA.“ – „Auch wenn es völlig sinnlos ist?“ – „Wieso sinnlos? Haben Sie es denn nicht bemerkt?“ – „Was bemerkt?“ – „Ich sagte ,unser Unternehmen‘. Und wenn Sie heute hingehört haben, dann ist Ihnen aufgefallen, dass Jürgen, also Schrempp, zwei oder drei Mal ,Ihr Unternehmen‘ gesagt hat.“ – „Ist mir nicht aufgefallen.“

„Doch, doch, und es war sehr interessant, auf welche Art er das gesagt hat.“ – „Auf welche Art hat er es denn gesagt?“ – „Na ja, so als würde er es selbst nicht glauben. Sehen Sie: Sie müssen sich nur eine einzige Aktie kaufen, und schon dürfen Sie bei der Hauptversammlung das Wort ergreifen.“ – „Genau, Aktionärsdemokratie!“, rief ich. „Mumpitz!“, rief er. „In welcher Demokratie kann man sich denn Stimmen kaufen?“ Ich war tief beeindruckt von Schultheiß’ Scharfsinn. Wie konnte es sein, dass mir all das, was er erzählte, entgangen war?

„Aber war das meiste, was auf dieser Hauptversammlung geredet wurde, nicht bodenloser Schwachsinn?“, fragte ich. Schultheiß leckte den eingetrockneten Schaum vom Rand seines Bierglases und gab der Bedienung ein Zeichen. „Wie, Schwachsinn?“, fragte er schroff. Ich erinnerte ihn an die Aktionäre, die sich beschwert hatten, dass es bei ihrem Mercedes Klopfgeräusche gebe. Dass Rußpartikel im Filter des neuen Wagens seien. Dass einer sich keinen Mercedes leisten könnte, weil die so teuer seien. Dass der Sohn eines anderen an den Vorstand geschrieben habe, um ein Automodell des Dodge Viper zu bekommen, ohne Antwort zu erhalten. Dass die Unternehmenspolitik im Suff gemacht werde. Dass es auf der Hauptversammlung keine Tragetaschen mit dem Stern darauf gebe. „Schrempp hat allen diesen Menschen erklärt, dass er ihre Sorgen ernst nehme, und dass Lösungen gefunden werden müssten“, gab Schultheiß zu bedenken. „Klar doch, aber was soll er auch sonst sagen. Dass er sie nicht ernst nimmt? Sie würden ihn steinigen.“ – „Das ist ja das Schöne, er muss das alles ernst nehmen, obwohl er es grauenvoll findet.“ – „Was ist daran schön?“

Die nächsten Biere kamen. Schultheiß begann langsam Wirkung zu zeigen. Er blickte sich verschwörerisch um, dann winkte er mich zu sich heran. „Wissen Sie, was daran das Schöne ist?“ – „Nein.“ – „Das Schöne ist, dass sie alle, wie sie da oben sitzen, eines der mächtigsten Unternehmen der Welt regieren. 416.000 Mitarbeiter in über 200 Staaten. Jahresumsatz 162 Milliarden Euro. Wie viel Kaltschnäuzigkeit muss einer besitzen, um sich das zu trauen. Was für Nerven muss der haben. Welches Machtbewusstsein muss der haben, um sich Tag für Tag dort oben zu halten.“ Ich unterdrückte ein Gähnen. Schultheiß fuhr fort: „Während die Hauptversammlung läuft, warten in ihren Büros Milliardenabschlüsse darauf, unterschrieben zu werden. Tausende von Entscheidungen sind zu treffen, und jede einzelne, richtig oder falsch, kann die eigene Karriere beenden, das Unternehmen in die Krise führen.“ – „Ja doch“, stöhnte ich. „Umgeben sind diese Menschen von anderen, die sich niemals trauen würden, zu widersprechen, selbst wenn sie dazu aufgefordert werden. Unter gewöhnlichen Umständen würde keiner von denen mit Leuten, wie sie einem auf der Hauptversammlung begegnen, auch nur reden. Und nun stellen Sie sich vor: Sie kaufen sich nur eine einzige DaimlerChrysler-Aktie, und schon müssen sich Aufsichtsrat und Vorstand dieses riesigen Unternehmens ganz persönlich vor Ihnen rechtfertigen. Und als Draufgabe dürfen Sie ihnen vor zehntausend Zuschauern und der versammelten Weltpresse auch noch sagen, was ihnen gerade so durch den Kopf geht, und wenn’s der größte Blödsinn ist! Und dabei halten Sie sich einfach nur an das, was in Deutschland vorgeschrieben ist. Ein echtes Fegefeuer! Und das zum Preis einer einzigen DaimlerChrysler-Aktie! Wo kriegen Sie das sonst?“ Ja, wo eigentlich? Und nun beging ich einen folgenschweren Fehler. Ich erwähnte die Vereinigung „Kritische AktionärInnen DaimlerChrysler“. Schultheiß’ rotgetrunkene Äuglein blitzten feindselig auf, als er ihren Namen hörte:

„Die? Ach, die. Die Konkurrenz. Jedes Jahr werfen Sie dem Vorstand das Gleiche vor: Unterstützung der argentinischen Militärdiktatur, tierquälerische Rodeoveranstaltungen in Nordamerika, Beteiligung am Bau von Atomwaffen und Landminen.“

„Ist das nicht wesentlich interessanter als Klopfgeräusche, Rußfilter, Modellautos, Tragetaschen?“, fragte ich.

Schultheiß wurde ungemütlich: „Ach was! Wir sind doch hier nicht im Bundestag! Wie mich das langweilt! Immer der gleiche Kram, und Schrempp ist keinen Deut besser. Antwortet immer das Gleiche: Wir produzieren keine Atomwaffen und keine Landminen, wir unterstützen die Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung von Verbrechen in Argentinien, wir engagieren uns gegen Stierkämpfe. Wir nehmen Ihre Kritik sehr ernst.“

Er schäumte nun geradezu, und die Bedienung warf Schultheiß bereits erste kontrollierende Blicke zu. War es wieder so weit? Ich versuchte ihn zu beruhigen: „Aber Sie von der Aktionsgemeinschaft Akribischer Aktionäre, Sie haben doch auch was auf dem Herzen?“

„Na klaaar!“ Er sprach plötzlich mit gepresster Stimme. „Wissen Sie was? Wir von der AAA, wir fordern die Verlegung des Firmensitzes von Stuttgart-Möhringen nach Dubai! Hauptversammlung in Oasenatmosphäre! Ich wollte das heute vorschlagen, aber sie haben mich von der Rednerliste gestrichen. Skandal. Vielleicht ahnten sie was. Hätte sie zu sehr in Bedrängnis gebracht. Jetzt muss ich bis nächstes Jahr warten.“

Ob er denn nächstes Jahr wieder zur Hauptversammlung komme, wollte ich wissen. Unter dem Tisch schlug er die Hacken zusammen: „Aber immer! Wir halten uns an das, was in Deutschland vorgeschrieben ist!“ – „Also dann, auf Dubai!“ – „Auf Dubai!“

Georg M. Oswald ist Schriftsteller und lebt in München. Zuletzt erschien im Hanser Verlag sein Roman „Alles was zählt“.