Wer legt sich auf die Cyber-Couch?

Angewandte Psychotherapie über das Internet gehört in den USA bereits zur Netzkultur, in den Niederlanden läuft zurzeit ein Pilotprojekt. Mit Erfolg. Auch deutsche Ärzte würden gerne online arbeiten – noch verbietet es allerdings die Berufsordnung

von ANGELIKA HOFFMANN

Da, wo ICH ist, soll ES sein. Im 21. Jahrhundert hat das moderne ICH die Möglichkeit, sein triebhaftes ES unter anderem im Internet zu befriedigen. Laut Sigmund Freud sind die Triebe – insbesondere die Sexualtriebe – die einzigen Energiequellen des gesamten seelischen Lebens. Ihr Ziel sei der Lustgewinn oder allgemein die Erreichung des psychologischen Gleichgewichts. Die Klicks auf Sexseiten, die große Nachfrage beim Online- Shopping und Online-Banking sprechen tatsächlich dafür, dass man seine Triebe im Internet befriedigen kann. Die Angebote sind vielfältig, und man muss nicht das Orakel befragen, um vorauszusagen, dass in Zukunft immer mehr Menschen ihren Alltag vom Computer aus bewältigen werden. Was aber, wenn das ICH seinen Alltag irgendwann nicht mehr bewältigen kann? Dann nichts wie ab auf die Cyber-Couch – Online-Therapien könnten zum neuesten Trend werden.

Was in Deutschland noch Zukunftsmusik ist und allenfalls Anfang April auf dem Münchner Kongress „Internet und Psychiatrie. Zwischen Online-Therapie und Internetsucht“ (www.psynet-congress.de) thematisiert wurde, ist in den USA schon Wirklichkeit geworden. Für die Amerikaner gehört der interaktive Therapiealltag längst zur Netzkultur. In Deutschland hingegen verbietet es die Berufsordnung Ärzten bislang noch, Ferndiagnosen zu stellen und entsprechende Behandlungsstrategien über das Internet durchzuführen. Patrick Bussfeld, einer der Mitorganisatoren des Münchner Kongresses, ist der Meinung, dass Online-Therapie eine Zukunft haben könnte. „Allerdings wissen wir noch zu wenig, wir brauchen wissenschaftliche Studien“, sagt er.

Erfolg durch Anonymität

Genau diese Studien liefert das kleine Nachbarland Holland. Unter dem Namen „Interapy“ werden auf der Seite www.interapy.nl Patienten mit posttraumatischem Stresssyndrom auf der Cyber-Couch behandelt. Depressive, psychotische oder suizidgefährdete Patienten werden allerdings nicht online betreut. Das Pilotprojet von Prof. Dr. Alfred Lange an der Universität Amsterdam verzichtet bewusst auf den persönlichen Kontakt. Die Verfahrensweise ist denkbar einfach und somit internetgerecht: Erst anmelden – dann kann es losgehen. Es folgt eine Therapie in vier praktischen Schritten: Information, Untersuchung, Behandlung und psychologische Auswertung. Über einen Zeitraum von fünf Wochen schreiben die Netzpatienten zehn Essays und werden per E-Mail betreut. Mit positiven Ergebnissen – so die Aussage von Professor Lange. Der Schlüssel zum Erfolg heißt Anonymität. Wo nämlich bleibt das ICH, wenn ES sich online therapieren lässt? Im Verborgenen natürlich. Herkömmliche Therapien bringen meist einschneidende Folgen für den Alltag des Einzelnen und seiner Mitmenschen mit sich. Eine Online-Therapie dagegen kann relativ unbemerkt durchgeführt werden. Außerdem eignet sich das Angebot besonders für Menschen, die sich schämen, vor Fremden ihr Inneres nach außen zu krempeln. Oder für Menschen, die viel unterwegs sind und ohnehin oft am Computer arbeiten. Oder aber für diejenigen, die im Niemandsland leben und in erreichbarer Umgebung keinen geeigneten Therapeuten finden.

Eines dieser Kriterien würde auf jeden potenziellen Internetnutzer zutreffen, der über eine Therapie nachdenkt. Kritiker stellen jedoch die berechtigte Frage, ob es sinnvoll ist, ausgerechnet Menschen anonym über das Internet zu therapieren, die ohnehin unter beruflichem Stress leiden und über wenige soziale Kontakte verfügen. Der Münchner Psychiater Oliver Seemann warnt vor den möglichen Folgen. „Die Distanz führt nur dazu, dass Konflikte sich erhärten, Krankheitsbilder sich verschlimmern und die Erkrankung chronisch wird.“ Psychotisch autistisches Verhalten sei die mögliche Folge einer Online-Therapie. Ohne Zweifel gäbe es Risiken und Nebenwirkungen und antisoziale Tendenzen könnten gefördert werden.

Betreuung per E-Mail

Was sich Experten wie Patrick Bussfeld momentan gut vorstellen können, ist ein unterstützendes System, das die Vorteile des persönlichen Kontakts und der Online-Therapie verbindet. Dass Ärzte ihre Patienten per E-Mail informieren, betreuen oder an die Einnahme ihrer Medikamente erinnern, könnte bald schon gängige Praxis sein. Auch eine therapeutische Nachbehandlung per E-Mail hält Patrick Bussfeld für möglich. Doch wie immer sieht auch hier die Realität etwas anders aus, denn die Psychiater reden über Eier, die manche Psychologen schon längst gelegt haben. Überraschenderweise gilt nämlich in Deutschland für Psychotherapeuten und Psychologen eine andere Auslegung der Berufsordnung als für Ärzte. Unter der Adresse www.online-therapie.de bietet zum Beispiel eine Psychotherapeutin bereits eine Online-Therapie an. Es gelten die üblichen Tarife: 15 Minuten Chat kosten 40 Mark, eine einseitige Beratungs-Mail aus der Feder der Therapeutin 65 Mark – gezahlt wird sicherheitshalber im Voraus.

Doch die wenigsten Internetnutzer kennen solche Angebote, die Anbieter von digitalen psychotherapeutischen Behandlungen haben kaum Kundschaft. Wie aber würde es aussehen, wenn sich die Online-Therapie in Deutschland etablieren würde? In den Niederlanden verhandelt „Interapy“ bereits mit Krankenkassen über die Finanzierung ihres Angebots. Vielleicht denken eifrige Krankenkassenangestellte schon jetzt darüber nach, wie billig eine Therapie im Netz sein könnte und ob es nicht die geeignete Therapieform für sozial Schwache sein könnte. Patrick Bussfeld sieht darin keine Gefahr – im Gegenteil: „Billigangebote würden für eine weitere Verbreitung sorgen. Nicht der Geldbeutel, sondern die Akzeptanz ist wichtig. Eine soziale Komponente wird es nicht geben.“ Wobei man allerdings bedenken muss, dass auch im Rahmen der Netz-Therapie – falls sie sich denn durchsetzen sollte – die Trennung der Gesellschaft in Online- und Offline-Bürger deutlich würde und nicht vernetzte Menschen das Nachsehen hätten.

Freud pur im Netz

Einen Internetzugang brauchte man jedenfalls noch nicht, um sich von Sigmund Freud behandeln zu lassen. Doch ähnlich wie der Cyber-Therapeut hielt sich auch Freud während der Sitzung zurück, saß still am Kopfende der Couch und hörte in erster Linie zu. Und der Patient überließ sich in entspannter, liegender Haltung seinen Einfällen und Assoziationen. Später wertete Freud die Erzählungen aus und versuchte ein Bild über die krank machenden Faktoren zu gewinnen. Online-Therapie ist also streng genommen Freud pur, ins 21. Jahrhundert gedacht.

Für die eigentliche Herausforderung an den modernen Menschen kann aber auch das Internet keine Lösungsmöglichkeiten, sondern nur Information bieten. Denn das eigenverantwortliche ICH muss Vor- und Nachteile einer Online-Therapie abwägen und sich dann entscheiden – ganz ohne therapeutische Hilfe. Von wegen, das Internet ist ein Spiegel unseres Selbst. Was uns das Kultur-ÜBER-ICH aufträgt, kann eh in den seltensten Fällen erfüllt werden.

hoffmann.ange@t-online.de