Warten auf den Knall

Glaubt man dem öffentlichen Diskurs, so sind die 1968 Geborenen ganz anders als ihre einst rebellischen Eltern: gesetzter, aber auch bindungsgestört, orientierungslos. Hat da wer versagt?

von DIRK KNIPPHALS

Wer 1968 geboren wurde, wird, wenn er oder sie es nicht schon geworden ist, dieses Jahr immerhin 33 Jahre alt. Zwar hat sich Jugendlichkeit – auch dies ein Ergebnis vergangener Jugendrevolten – mittlerweile als ein dehnbarer Begriff erwiesen. Dennoch dürften 1968 Geborene Schwierigkeiten haben, sollten sie sich immer noch als nicht erwachsen verstehen wollen. 33-jährig trifft man bereits auf Jüngere, die einen, sollte man in ihrem Terrain wildern, scheel von der Seite ansehen.

Aber kein Problem. Es ist ja sowieso wohl eher so, dass das Nicht-erwachsen-werden-Wollen ein Problem der Achtundsechziger selbst darstellt, vielleicht noch eines der ihnen nachfolgenden Jahrgänge, die es den Achtundsechzigern nachmachen wollten. Es stellt aber nicht das Problem der sich aktuell konstituierenden Generationsmodelle dar. Jedenfalls nicht nach dem, was man gerade so hört.

33 Jahre – das bezeichnet auch den Zeitraum, den man im Alltagsgebrauch als Generation begreift. Kinder, Eltern, Großeltern, drei Generationen, werden gerne synonym für ein Jahrhundert gesetzt. Nun haben wir also genau ein Drittel dieser Zeit erreicht. Und es hat sich, wie um diese Alltagsweisheit zu beweisen, zuletzt auf dem Generationensektor eine Menge getan.

Während die Urachtundsechziger inzwischen an der Schwelle zur Rente stehen, während sich die in den Siebzigerjahren geprägten Jahrgänge an den Polen der Macht tummeln, sind ihre Kinder inzwischen in einem Alter, in dem man sich längst nicht mehr am hegemonialen Gängelband einer vorangegangenen Generation führen lässt. Wer von ihnen nicht sowieso schon eigene Kinder bekommen hat, hat zumindest über das Kinderkriegen nachgedacht. Im Berufsweg sind erste Erfolge oder auch Misserfolge zu verzeichnen.

Die Kinder der Achtundsechziger also sind jetzt älter, als ihre Eltern es in ihrer heroischen Zeit des Aufbegehrens waren. Wenn sie, wie viele sagen, gesetzter als ihre Eltern sind, muss das nicht damit zu tun haben, dass sie sich weniger kämpferisch oder gar idealistisch geben. Es kann auch sein, dass sie ihre juvenilen Aufbruchsphasen schon hinter sich haben. Darüber hinaus ist es ganz klar, dass dieser historische Abstand nicht ohne Brüche und Bewusstseinsverschiebungen zu haben ist.

Wirklich ganz klar? Die Kinder der Achtundsechziger, dies Thema vagabundiert im Moment durch die Diskurse. Dass es dabei gar nicht um die wirklichen Achtundsechzigerkinder geht, sondern eher um die in den Siebzigerjahren geborenen Jahrgänge, in denen das allgemeine pädagogische Experimentieren anhub – geschenkt. Viel interessanter ist, dass man in diesen Debatten kaum auf die mitten im Leben stehenden Juristen, Ärzte, Ingenieure, Werbetexter, auch Langzeitstudenten trifft, die bei den guten Ausbildungsmöglichkeiten und durchaus Ehrgeiz vermittelnden Elternhäusern zu erwarten wären. Stattdessen darf man sich die Kinder der Achtundsechziger als beziehungsunfähige Funktionsträger vorstellen oder als höhere Bürgertöchter, die mit großen Augen durchs Leben taumeln.

Wir haben es hier natürlich mit literarischen Mustern zu tun, gespeist aus dem großen Reservoir des gesellschaftlichen Fantasierens. Die Kinder der Achtundsechziger scheinen zurzeit die Rolle einzunehmen, die bis in die Siebzigerjahre Künstlern und Intellektuellen vorbehalten war: die des existenzialistischen Fremden, der aus dem normalen Alltagsvollzug herausfällt und gesteigerte Wahrnehmungsmechanismen entwickelt.

Als etwa der Roman „Das Blütenstaubzimmer“ vor vier Jahren mit dem Satz vermarktet wurde, jetzt schlügen die Kinder der Achtundsechziger zurück, mit einem kalten Blick auf ihre Eltern nämlich, da half es nichts, dass die Autorin Zoë Jenny so absolut nichts mit dieser Sichtweise anfangen konnte. Sie war ein Selbstgänger, der Roman ein Riesenerfolg und das Muster von den traurigen, anklagenden Achtundsechzigerkindern in der Welt.

Wer nach den Ursachen sucht, die für diese Fehlentwicklungen in der Sozialisation angenommen werden, stößt vor allem auf zwei Mechanismen. Zum einen wird diagnostiziert, die Achtundsechziger hätten ihre Kinder allein gelassen. Sie seien zu sehr mit der eigenen Emanzipation beschäftigt gewesen. Ihr Nachwuchs habe über keinen geschützten Ort zur Ausbildung einer eigenen Emotionalität verfügt. Für Konservative ist dieses Erklärungsmodell attraktiv: Ihm zufolge bekommen die Achtundsechziger nun die Strafe dafür, dass sie sich zu oft haben scheiden lassen. Aber auch Globalisierungskritiker können diesem Modell etwas abgewinnen. Ihr Gedankengang scheint in etwa so zu verlaufen, dass die Achtundsechziger die nützlichen Idioten für die wertezersetzenden Kräfte des globalisierten Kapitalismus abgeben: Die Befreiung der Achtundsechziger von den sozialen Bindungen öffnet in dieser Lesart das Tor für die vereinzelnden Tendenzen der Globalisierung. Man wird den Erfolg des französischen Romanciers Michel Houellebecq vor diesem Hintergrund lesen können.

Das zweite Ursachenmodell läuft scheinbar genau andersherum. Ihm zufolge haben die Achtundsechziger ihre Kinder überpädagogisiert. Dieses Modell reagiert auf die Vielzahl von Erziehungsmodellen, die in den Siebzigerjahren grassierten, auf den Kinderladenboom und auf die Tendenz, jedes Pubertätsproblem mit einer Batterie pädagogischer Ratgeberbücher zu kurieren. Auch hier läuft eine familienkonservative Unterströmung mit, wird behauptet, die Achtundsechziger seien keine richtigen, gefühlssicheren Eltern gewesen. Kann gut sein, dass die Sozialarbeiter- und Pädagogenkarikaturen, die Florian Illies’ Bestseller „Generation Golf“ bevölkern, einen Reflex auf dieses Modell darstellen.

Da wir uns hier auf dem Feld des gesellschaftlichen Fantasierens befinden, können wir ein wenig darüber spekulieren, was diese gut geölte Vorwurfs- und auch Rechtfertigungsmaschinerie antreibt. Zu einem gut Teil wird sie weniger mit den Kindern der Achtundsechziger als mit den Achtundsechzigern selbst zu tun haben. Dass sich eine nachfolgende Generation gegen die vorangegange abgrenzen muss, ist bekanntlich eine Idee, die im Denken der Achtundsechziger fest verankert ist. Wenn man den hier einschlägigen Klischees nur ein bisschen trauen kann, dürfte sie bei dem Gedanken, auch nur irgendetwas mit ihren Eltern gemein zu haben, ein heilloser Schrecken überfallen haben.

In der Art und Weise, wie heute über die Kinder der Achtundsechziger geredet wird, ist, so darf man annehmen, eine gehörige Menge an Projektion von diesem Kampf- und Abgrenzungsmodell der Generationen enthalten. Man scheint geradezu zu erwarten, dass die Nachkommen in eine Gegnerschaft zur vorangegangenen Generation treten.

Die Frage ist allerdings, ob dies Generationenmodell heute trifft. Der Bruch zwischen den Generationen, das steht außer Frage, findet gerade statt. Allerdings geschieht er nicht mit dem Knall, mit dem die Achtundsechziger ihn vollzogen haben und den auch die Achtundsiebziger im direkten Clinch mit ihnen (eher vergeblich) anstrebten. Er vollzieht sich selbstverständlicher, und sei es auch nur aufgrund des vorgerückten Alters der Achtundsechziger. Mag also sein, dass der Hauptstrom der Beschäftigung mit den Achtundsechzigerkindern zu dem Wimmern gehört, das nach den Worten eines ehemaligen US-Präsidenten den Knall gerne ersetzt.

Es ist aber an der Zeit, die realen Suchbewegungen und gegenwärtigen Erfahrungen, die in den Romanen und sonstigen Lebensäußerungen der heute (zum Beispiel) 33-Jährigen enthalten sind, von den Rückprojektionen vom Pol 68 aus zu scheiden.

DIRK KNIPPHALS, 37, Leiter des taz-Kulturressorts, moderiert das Forum Kultur: Generationenwechsel. Die Kinder der Achtundsechziger, Samstag, 28. April, 12–14 Uhr