Das Modell des Schulmeisterleins

Welche Bücher ich gerne verlegen würde (8):Siv Bublitz, Leiterin des Rowohlt Berlin Verlages

Es gibt eine Menge Bücher, die ich gern verlegen würde, aber leider nicht verlegen kann, vor allem deshalb, weil andere mir zuvorgekommen sind: sämtliche Erzählungen von Tschechow zum Beispiel, „Der große Gatsby“, die Südseegeschichten von Stevenson oder jetzt gerade Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“. So etwas setzt Maßstäbe: Die vielen guten Bücher, die es schon gibt, machen die Verlegerei auch nicht gerade einfacher.

Jorge Luis Borges, der als Bibliothekar sicher mit diesem Problem vertraut war, hat dafür eine interessante Lösung nahe gelegt: Er kannte einen Autor namens Pierre Menard, der ein toller Kerl gewesen sein muss, denn er hat sein Lieblingsbuch, den „Don Quijote“ von Cervantes, einfach noch mal selbst geschrieben. Nicht dass er das Buch abgeschrieben hätte, das war ihm viel zu simpel und hätte auch nichts genützt, denn dann hätte er es ja nicht unter seinem Namen veröffentlichen können. Nein, er hat sich tatsächlich hingesetzt, um den ganzen Roman 300 Jahre später noch einmal neu zu erschaffen. Das war gar nicht einfach, vor allem weil er Franzose war und erst mal Spanisch lernen musste. Aber schließlich hat dieser Menard den „Don Quijote“ tatsächlich genauso hingekriegt wie Cervantes, und Borges findet seine Version sogar irgendwie besser, obwohl die Texte identisch sind. Allerdings hat es durch den ganzen Aufwand ziemlich lange gedauert, weshalb Menard bis zu seinem Tod erst zweieinhalb Kapitel vollendet hatte.

Aber die Idee ist gut. Und wenn man es nicht ganz so genau nimmt, schafft man auch mehr. Bei Jean Paul findet sich die Geschichte vom Schulmeisterlein Wutz, das kein Geld hatte, um sich Bücher zu kaufen, und sie deshalb kurzerhand selbst schrieb. Dieser Wutz war genauso findig wie Menard, bloß schneller, weil es ihm ganz egal war, ob die Texte irgendwelche Ähnlichkeit mit dem Original aufwiesen. So schrieb er sich hintereinander weg „Die Räuber“, „Die Leiden des jungen Werthers“ und die „Kritik der reinen Vernunft“, womit er ja schon eine ganze Menge Bücher im Regal hatte, die er sich sonst niemals hätte leisten können. Zum Teil waren seine Versionen so gut, dass die Leute dachten, Schiller, Goethe und Kant hätten sich von Wutz inspirieren lassen und nicht umgekehrt. Gut, dass Jean Paul die Angelegenheit dann richtig gestellt hat, sonst hätte es wahrscheinlich eine ziemliche Verwirrung gegeben. Was aus der Bibliothek des Schulmeisterleins wurde, erwähnt Jean Paul allerdings nicht, daher kann ich diese Bücher leider auch nicht verlegen, so gern ich es würde.

Ab und an habe ich schon darüber nachgedacht, ob man das Wutzsche Modell auf heutige Verhältnisse übertragen kann. Im Prinzip wäre es doch gar nicht schlecht, von wichtigen Büchern gleich mehrere Versionen zu haben. Zum Beispiel „Die Buddenbrooks“, verfasst von Bodo Schäfer. Das Ende wäre bestimmt nicht so traurig wie bei Thomas Mann, und man könnte noch einen Anhang mit praktischen Tips für Existenzgründer hinzufügen und so ganz neue Leserkreise erschließen. Irgendwann dämmerte mir dann, dass das natürlich bei uns gar nicht geht, schon wegen des Titelschutzgesetzes. Nach diesem Gesetz kann ein Autor zwar dasselbe Buch unter vielen verschiedenen Titeln veröffentlichen, wie etwa John Grisham es seit Jahren erfolgreich tut, aber nicht zwei verschiedene Bücher unter demselben Titel.

So einfach lässt sich die Sache also nicht lösen. Aber dann fiel mir ein, dass die vielen guten Bücher, die es schon gibt, nicht nur für die Verlage ein Problem sind, sondern erst recht für die Autoren. Bestimmt könnte jeder Schriftsteller eine Menge Bücher von anderen Schriftstellern nennen, die er selbst gern verfasst hätte, auch wenn er das vielleicht nicht zugeben will. Für Autoren gibt es allerdings nur eine Art, sich dem Problem zu stellen: selbst Bücher zu schreiben, die den Vorbildern ebenbürtig sind und sie womöglich noch übertreffen. So entstehen dann Bücher, die ich gern verlegen möchte und glücklicherweise auch verlegen kann. Aber das ist eine andere Geschichte.