Im Schnellkurs einmal Querflöte

Für die Mitglieder des Ulsenheimer „Musikvereins Zeitvertreib“ aus Franken wurde voriges Jahr der Traum aller deutschen Blaskapellen wahr: Sie durften in New York auf der Steubenparade mitmarschieren

von BERND SIEGLER

„Wir haben dreihundertfünfzig Einwohner und zehntausend Schweine.“ Förster Roland Belian, Mitglied des „Musikvereins Zeitvertreib“ aus Ulsenheim, lacht und rückt sein Tenorhorn wieder zurecht. Danach reiht sich der 39-Jährige in die Blaskapelle ein und stimmt den Marsch „In die weite Welt“ an.

Ein neugieriger New Yorker Polizist in der 5th Avenue Ecke 64th Street, im Herzen Manhattans, bleibt zurück. Ihm bleibt nur ein kurzes anerkennendes „Great!“. Dann widmet er sich wieder seinem Dienst: Er hat die Straße am Ostrand des Central Park abzusperren für die Steubenparade, die in New York alljährlich Mitte September stattfindet und die deutsch-amerikanische Freundschaft hochleben lässt.

45 Blaskapellen, Karnevalsgesellschaften, Trachten- und Schützenvereine hatten voriges Jahr den Weg aus Deutschland auf sich genommen, um neben verschiedenen amerikanischen Kapellen in der kilometerlangen Parade mitzumarschieren. Sie erinnert an den 1776 ins Land gekommenen deutschen General Friedrich Wilhelm von Steuben, der den späteren ersten Präsidenten der USA, George Washington, im Kampf gegen die Briten unterstützte.

Da Steuben den zersplitterten Streitkräften der dreizehn Gründerstaaten die nötige Disziplin und Ordnung beigebracht haben soll, gilt er heute als einer der Väter des Siegs im Unabhängigkeitskrieg. Einmal auf der Steubenparade zu spielen, das ist der Traum einer jeden deutschen Blaskapelle.

Für die Leute aus Ulsenheim, einem winzigen Dorf bei Uffenheim, machte ihn die in den Sechzigerjahren in die USA ausgewanderte Tochter des längst verstorbenen Dorfschullehrers möglich. Als Professorin für Germanistik an der Universität von Connecticut ließ Renate von Ludany ihre Beziehungen spielen, bis schließlich die Einladung des „German-American Steuben Parade“-Komitees im Briefkasten von Alfred Lang, Vorstand der Blaskapelle, lag. Überlegt haben die Musiker nicht lange: New York – das ist es.

Seit 1922 besteht der „Musikverein Zeitvertreib Ulsenheim“. Hunderfünfzig Stücke umfasst das Repertoire der vierzig Musikerinnen und Musiker aus dem Frankenland, zehn Stunden am Stück könnten sie spielen. Viele Konzerte bei befreundeten Kapellen in Belgien, Frankreich, Italien und den Niederlanden haben sie bereits absolviert.

„Aber New York ist ganz besonders“, betont Vereinsvorstand Lang. Er hat Agrarbetriebswirtschaft studiert und ist einer der wenigen Vollerwerbslandwirte im Dorf. Der 36-Jährige betreibt Schweinemast, Getreide- und Zuckerrübenanbau und bewirtschaftet einen Weinberg. Seit seinem zehnten Lebensjahr spielt er im Musikverein Posaune.

Der Musikverein ist eine Institution in Ulsenheim, nicht nur weil mehr als zehn Prozent der Einwohner quer durch alle Altersschichten aktiv mit dabei sind. Dort werden Ideen geboren – ob es sich um den selbst vom Bauernverband als vorbildlich eingestuften überbetrieblichen Maschineneinsatz handelt, um Direktvermarktung oder die schonende Ganztraubenpressung bei der Weinherstellung. Nicht nur bei der Kirchweih und anderen Festen – der Musikverein hält das Dorf zusammen, „wahrscheinlich mehr, als wir denken“, glaubt Alfred Lang.

Wochen vor dem Trip nach Übersee wurde in den Gassen des Dorfs fleißig geübt, schließlich musste für einen sechs Kilometer langen Marsch auf Asphalt trainiert werden. Dirigent Gerhard „Jerry“ Geuder, im normalen Leben Stadtkapellmeister von Höchstadt/Aisch, weiß, worauf es dabei ankommt: „Die Puste und der Takt sind nicht das Problem. Das gleichzeitige Anfangen und Aufhören muss klappen.“

In New York gibt er mit zwei Becken in der Hand die entscheidenden Kommandos. Daheim sorgt Geuder dafür, dass das Repertoire über Volksmusikmärsche hinaus um jazzig angehauchte erweitert wird. Das „beste Training, musikalisch und konditionell“, sei, so Geuder, die „Kerm“ gewesen, wie die Kirchweih auf Ulsenheimerisch heißt.

Am zweiten Sonntag im September zieht ein Traktor – auf dessen Anhänger die Blasmusiker musizieren – stundenlang durchs Dorf. Hinter dem Wagen laufen die Kirchweihburschen und intonieren zur Blasmusik mehr oder minder anstößige Gstanzln über das Dorfleben. Das Bier fließt dabei in Strömen. „So kurz nach der Kirchweih sind wir einfach gut in Form“, weiß Lang.

Die Kerm also die Generalprobe und die Steubenparade in New York die Premiere. Zuvor müssen jedoch der offizielle Empfang bei William Hetzler, dem Vorsitzenden des Paradekomitees, und ein Gastspiel bei einem „Oktoberfest“ absolviert werden. Geschlagene zwei Stunden müssen die Ulsenheimer auf die Begrüßung durch Hetzler warten. Zu lange für einen der drei als Geschenk gedachten Bocksbeutel. Der leckere Müller-Thurgau, den Gipskeuperböden des südlichen Steigerwalds abgerungen, wird geköpft und an Ort und Stelle geleert. So überreicht Dirigent Geuder eben nur zwei Flaschen.

Ebenfalls schlecht organisiert ist der Abendauftritt. Das für das „Oktoberfest“ vereinbarte „große Kaufhaus“ entpuppt sich als kleine Bühne am Pier 17, dort, wo Hudson-River-Ausflugsboote ablegen. Nach drei Märschen ist Schluss. Statt Frust jedoch Euphorie: Die Idee, nachts am Times Square, dem wohl belebtesten Platz in Manhattan, aufzuspielen, findet sofort Anklang. Selbst in der Metrostation wird die Wartezeit mit einem lautstarken „Hoch die Kameradschaft!“ überbrückt. Die New Yorker auf den anderen Bahnsteigen bedanken sich auf ihre Weise. Neugierige, staunende Blicke gehen über in ausgelassenes Tanzen und – Applaus.

Dann, nachts, gleich gegenüber des New Yorker Polizeipräsidiums, legen die Ulsenheimer mit dem flotten Stück „Muppet Show“ richtig los. Begeistert johlt die dichte Menschenmenge, und selbst die inzwischen alarmierten Polizisten lassen noch ein weiteres Stück zu. „Das sind Erlebnisse, von denen man zehren kann“, wird Alfred Lang später erzählen.

Da gerät sogar die Steubenparade, der eigentliche Grund der Reise über den großen Teich, etwas ins Hintertreffen. Als sie 1957 zum ersten Mal zu Ehren des Generals und zur Erinnerung an die Leistungen der deutschen Einwanderer beim Aufbau der Vereinigten Staaten abgehalten wurde, marschierten US-Präsident Dwight Eisenhower und Bundespräsident Theodor Heuss in der ersten Reihe. 43 Jahre später bilden nun nachrangige Chargen die Vorhut: Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel und als diesmaliger Schirmherr der Parade Georg Steinbrenner, Mehrheitseigner des Baseballteams „New York Yankees“.

„Die größte ethnische Gruppe in diesem Land feiert damit ihre Leistungen am Aufbau der Vereinigten Staaten“, beschreibt der Steuben-Komitee-Vorsitzende Hetzler „an diesem großen Tag für Deutschland“ den Sinn der Parade. Er beruft sich auf die letzte Volkszählung in den USA vor elf Jahren. Damals gab jeder vierte US-Bürger, also insgesamt 58 Millionen, an, deutsche Vorväter zu haben. Auch „Yankee“-Boss Steinbrenner hat deutsche Wurzeln – wenn er bis ins Jahr 1840 zurückgeht. Hinter ihm und Erwin Teufel marschieren auf der Fifth Avenue zwischen der 64. und 86. Straße 450 verschiedene Vereine, darunter über siebzig Musikgruppen. Eine Ziege an der Leine, ein Dackel, der ein Schwarzwaldhäuschen hinter sich herzieht, und als Kaiserin Sissi, Märchenkönig Ludwig II. oder Reichskanzler Otto von Bismarck verkleidete Mitglieder der Bad Kissingener Truppe verzücken die Zuschauer. Zum „Muss i denn zum Städtele hinaus“ wird kräftig mitgeschunkelt und geklatscht.

Zehntausende säumen die Paradestraße, ausgestattet mit deutschen Fähnchen oder, wie ein strammstehender Rentner, mit der in deutschen Neonazikreisen beliebten Reichskriegsflagge. Sie jubeln den Marschierenden zu, die in Uniformen, zum Teil mit Orden übersät, ein Bild des preußischen, militaristischen Deutschland zelebrieren. Renate von Ludany hat damit kein Problem: „Natürlich ist das Deutschtümelei, aber in positivem Sinne, eben ein Bekenntnis zur Heimat.“ Doch Musikvereinsvorstand Alfred Lang ist nicht sehr wohl in seiner Haut. „Das ist noch deutscher als in Deutschland selbst und liefert ein Zerrbild von unserem Land.“

Trotzdem marschieren die Ulsenheimer bis zum Ende mit. Allen voran Fahnenträger Friedrich Nerz. Um „richtig dazuzugehören“, lernte der Krankenpfleger im Schnellkursus Querflöte. Lampenfieber, vor so vielen Leuten zu spielen, hat er nicht. „Warum denn? Die Querflöte hört man ja eh nicht so raus“, erklärt er lachend. Dahinter bläst die 23-jährige Arzthelferin Bianca Hirt die Trompete und freut sich über die gute Stimmung in der Truppe: „Überall, wo wir sind, ist Party.“

Zwei Reihen weiter haut Klaus Hirschmann auf die Pauke. Daheim, im Uffenheimer Schlachthof, sorgt er für die richtige Mischung beim Leberkäs. Hinter ihm mit der Tuba läuft Herbert Saemann, nicht nur Initiator des überbetrieblichen Landmaschinenverleihs, sondern auch Schatzmeister des Musikvereins. Denn während andere Kapellen opulente Zuschüsse für die Reise nach New York einstreichen konnten, mussten sich die Ulsenheimer mit dreihundert Mark vom Landkreis begnügen. „Dem Kassier hat das Herz geblutet“, gibt der 36-Jährige zu.

Gut zweitausend Mark kostet jeden Ulsenheimer der Dreitageausflug nach New York. „Wir sind hundert Stunden hier, das sind zwanzig Mark pro Stunde“, rechnet Saemann vor. Also heißt es, New York nicht zu verschlafen: „Das wäre doch Quatsch“, findet Herbert Saemann. Drei Stunden Schlaf, wenn überhaupt, müssen reichen.

Den Heimweg garnieren sie mit Stepeinlagen, die Trommler üben sich in Sambarhythmen. Ob Jogger, Radler, Skater oder Flaneure, alle im Central Park reiben sich verwundert die Augen über die fröhliche Truppe in schwarzen Lederhosen, grünen Westen und roten Trachtenjacken. „Wenn alles passt, das Wetter gut ist und ein bisschen Bier da ist, dann geht das bei uns einfach ab“, erklärt Vorstand Lang die muntere Laune seiner Truppe.

Nur selten schweifen deren Gedanken ab, Richtung Heimat. Maishäckseln und die Aussaat von Wintergerste stehen an, die Zuckerrüben müssen raus, die Weinberge sind so weit. Die vier Tage, in denen halb Ulsenheim verwaist ist, sorgen Eltern, Verwandte und Dorfhelfer für alles. „Da hilft jeder zusammen, dass wir ruhigen Gewissens unsere Sache in New York machen können“, betont Herbert Saemann.

Unbeschwert können deshalb er und seine Kompagnons New York aufmischen. Professorin Ludany, die „ihren“ Ulsenheimern den Trip nach New York möglich gemacht hat, ist mächtig stolz auf ihre Gäste: „Es ist ganz ganz supertoll. Sie sind die interessantesten, amüsantesten und größten Stimmungsmacher.“

BERND SIEGLER, 43, ist seit 1981 taz-Korrespondent für Bayern und lebt in seiner geburtsstadt Nürnberg. Die 44. Steubenparade findet am 22. September statt