Das gekaufte Wunder

Marthaler, Castorf und Schleef wohnen hier nicht mehr.Verwunderte Anmerkungen zum Wiener Theaterboom

Wien, Wien, nur du allein: Stadt des Theaterwunders, so tönt es aus Berlin. In Mails, die mich erreichen, auf Faxen, in denen Peter Iden, Theaterkritiker und Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens, es beschwört. Ein Wiener Wunder also, frage ich mich und reibe mir verwundert die Augen. Höchste Zeit, einen Irrtum aufzuklären.

Ja, es wurden vier Inszenierungen nach Berlin eingeladen, und, ja, diese Inszenierungen sind – teilweise – gut, sehr gut sogar, zwei von ihnen möchte ich nicht missen: Luc Bondys „Möwe“ und Peter Zadeks „Rosmersholm“, oder anders formuliert: Gert Voss’ und Jutta Lampes und Johanna Wokaleks „Möwe“ sowie Angela Winklers, Gert Voss’ und Peter Fitz’ „Rosmersholm“ zählen in ihrer Präzision, der psychologischen Vielschichtigkeit, der faszinierend klugen – und lebensweisen – Auseinandersetzung mit dem Menschen und seinen Hoffnungen, Sehnsüchten, Trieben zu den intensivsten Theatererfahrungen, die das vergangene Jahr zu bieten hatte.

Doch sehen wir noch einmal genau hin: Bondy – Tschechow, dazu Lampe und Voss; Zadek – Ibsen, dazu Winkler, Fitz und Voss: Gibt es ein unfehlbareres Rezept für das Gelingen eines Theaterabends? Wohl kaum. Benötigt ein Intendant, um ein solches Wunder erblühen zu lassen, Instinkt, Wagemut, Vision? Wohl kaum. Was es braucht, ist schlicht: Geld. Und das in Mengen. Keiner der Genannten nämlich ist preiswert einzukaufen. Klaus Bachler aber verfügt über staatliche Subventionen, die im deutschen Sprachraum ihresgleichen suchen. Das von ihm geleitete Burgtheater ist reich. Mit seinem Geld könnte selbst das Stadttheater Augsburg schlagartig zur Wunderbühne mutieren. Morgen Augsburg. Mit Zadek, Winkler, Voss – ja bitte.

Bachler also, selbst einst Schauspieler, legt das Geld sicher und gewinnbringend in Schauspielern an, investiert in zwei bis drei herausragende Aufführungen je Saison, für die er keine Ausgaben scheut. Er kauft Gäste zu (wofür man Peymann einst schalt), keine Größe des deutschen Theaters ist unerreichbar. Und: Es lohnt sich, wie man sieht. Ein Theaterwunder also.

Bevor der Blick nun zum Rest des Wunder-Burgtheaters wandert, auch hier noch eine Anmerkung: Kein Marthaler findet sich unter den Gekauften, längst kein Castorf mehr, erst recht kein Schleef. Zadek kommt nicht, um Sarah Kane zu inszenieren, wie in Hamburg. Nein, in Wien macht er Ibsen. Kultivierte Menschen, kultivierte Sprache. Kein Risiko, das die Honoratioren im Publikum – längst sitzen dort nur noch diese – erschreckt. Theater vom Feinsten, risikolos. Kein Wagnis, keine neue Ästhetik.

Und sonst? Wenig Neues. Betrachten wir den Spielplan der kommenden Saison: Nestroy, Marlowe, zweimal Schiller, Oscar Wilde, Ostrowski, Schnitzler, Brecht, Bernhard – von zwölf Premieren an den beiden Hauptbühnen sind neun mit toten Klassikern bestückt. Die lebenden Autoren: Botho Strauß, Jon Fosse, Raoul Schrott. Keine Abonnementkündigung zu erwarten. Albert Ostermaier, wie Fosse erstmals in Wien, wandert auf eine neu adaptierte Nebenbühne, inszeniert immerhin von Andrea Breth. Sicher nicht verschreckend.

Wer inszeniert? Zadek (Marlowe, Theatertreffen-verdächtig), Bondy (Schnitzler, hallo, Theatertreffen), zweimal Breth, Thomas Langhoff, Dieter Giesing, Yoshi Oida, Dimiter Gotscheff, Tamás Ascher, Karin Baier, zwei Überraschungen vielleicht: Theu Boermans, Sebastian Hartmann. Insgesamt: der verstörend behagliche Schimmer gepflegter Sicherheit. In seinem dritten Jahr gibt Klaus Bachler nicht einmal mehr vor, neugierig zu sein auf die Welt jenseits des roten Samts. Ausprobieren zu wollen gar. Kein Autor neu zu entdecken, vielleicht ein Regisseur.

Während in anderen Künsten – der Architektur, der Musik – Österreich noch heute zu den ästhetischen Vorreitern zählt, setzt man im Theater auf Vergangenheit. Gegenwart findet nicht statt, weder in Texten, erst recht nicht in inszenatorischer Ästhetik. Und das Publikum: Von einem Durchschnittsalter jenseits der fünfzig darf ausgegangen werden. Aber vielleicht liegt gerade darin Bachlers Vision: Wir leben in einer Pensionistengesellschaft. Bachler bietet den wohlhabenden Rentnern verstörungsfreie Abendkultur. Leer bleiben wird sein Haus mit Sicherheit nicht. Das Durchschnittsalter steigt. Und mir bleibt die Verwunderung.

CORNELIA NIEDERMEIER

Das 38. Berliner Theatertreffen beginnt am 1. Mai