Pflege geht durch den Magen

Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen (V): Die Lust und Last der Nahrungsaufnahme bremsen den Appetit auf beiden Seiten der Betreuung
von PETER FUCHS

 ■ Niemand will Behinderten Böses. Aber wie ist es in unserer Gesellschaft wirklich bestellt um den richtigen Umgang mit Menschen, die Versorgung brauchen? Dieser Frage geht diese Serie nach. Sie handelt – durchaus streitbar – von der pflegerischen Kompetenz jenseits von Pädagogik und Integrationswut

In vorangegangenen Teilen dieser Serie war schon mehrfach vom Essen die Rede. Das ist leicht zu erklären, denn Essen ist eine Vitalfunktion. Es kommt jeden Tag mehrfach vor, und wer wollte bestreiten, dass es wichtig ist? Die Hauptregel zur Nahrungsaufnahme ist trivial, aber ich halte sie dennoch fest: Das Essen ist ein sich regelmäßig wiederholender, lebenswichtiger „Knoten“ von Handlungen, der für jeden Menschen (wie für jedes Tier) eine hohe, vielfach determinierte Bedeutung hat. Für schwer behinderte Kinder, Erwachsene, Greise gilt das sogar noch entschiedener, denn das Essen markiert die Stellen des Tages – jeden Tages –, bei denen Zuwendung möglich, Zugänglichkeit besonders stark ist. Das Essen ist die Zuwendungschance par excellence.

Wir fangen mit elementaren Dingen an. Ich zum Beispiel schätze über alle Maßen schmackhaftes Essen. Ich verhungere eher, als etwas zu mir zu nehmen, dessen Geschmack, Farbe, Konsistenz nicht meinen Erwartungen entspricht. Ist das Essen in Einrichtungen für Behinderte immer so, dass ich es essen würde?

Nein, das ist es wahrlich nicht. Ich will gar nicht reden von der angelieferten Tiefkühlkost, vom Mangel an frischem Obst, an frischem Fleisch, von all den unsäglichen Jugendherbergs-Tees in den roten und grünen Plastikkannen, lauwarm und verzuckert (oder nicht gezuckert). Kinder essen und trinken ja tatsächlich alles Mögliche, Red Bull und Hamburger, oder ich weiß nicht was. Ich will lieber (damit niemand meint, ich führe nur eine Privatregel vor) davon reden, dass es eine soziale Unterscheidung gibt, die zwischen Behinderten und nicht Behinderten unterscheidet: Die nicht behinderten Betreuer müssen nicht essen, was auf den Tisch kommt; die schwer Behinderten haben sich mit dem abzufinden, was auf den Tisch kommt.

Ein kleiner Tagesausflug mit einer Gruppe schwer behinderter Menschen. Höhepunkt: Man isst in einem Lokal. Dort gibt es Kartoffelsalat und Frikadellen. Der Kartoffelsalat ist fast grün und schmeckt grauslich. Man erwartet nachgerade, abgebrochene Fingernägel darin zu finden. Die Frikadellen sind in Wahrheit braune Flummies. Die Betreuer/innen ekeln sich und trinken stattdessen Kaffee. Aber sie laden die Speisen den behinderten Menschen auf den Teller. Es ist so viel da, dass man sogar zu Nachschlägen in der Lage ist.

Als die Gruppe und die Betreuer/innen am späten Nachmittag bei mir zu Hause den Ausflug mit Kaffee und Kuchen abschließen, wird von dem Fiasko erzählt, in Gegenwart der Behinderten, versteht sich, die das aber entweder nicht hören oder nicht verstehen. Niemand bemerkt, was für eine seltsame soziale Unterscheidung getroffen wurde. Es gibt den feinen, den empfindsamen Geschmack (man muss schließlich nicht alles essen) und auf der anderen Seite den groben undifferenzierten Geschmack, dem Flummies auf Kartoffelsalat zugemutet werden können.

Eine Kurmaßnahme in Holland. Alle Betreuerinnen stöhnen. Am schlimmsten ist der Abend. Dieses Brot und dieses Pferderauchfleisch. Die meisten essen es nicht. Oder dieses Restegemansche am Abend mit all dem undefinierbaren Zeug darin. Die Betreuenden haben zum Glück Schichtdienst, man kann ja essen gehen. So muss man sich nicht total durchhungern. Was ist mit den Behinderten? Nein, sie gehen nicht essen. Sie schlafen um diese Zeit. Und verhungern dürfen sie nicht. Also essen sie, was man ihnen auftischt. Darüber kann man sich sogar amüsieren. Manch einer haut rein wie ein Scheunendrescher. Ganz schön behindert!

Wenn die Betreuer/innen essen gehen, haben sie ein Thema, das für den ganzen Abend reicht. Werden die Behinderten etwas sagen? Nein, diejenigen, von denen ich rede, können kaum etwas sagen. (Haupt- und Magenregel zum feinen Unterschied: Die Sache ist einfach, denn jene seltsame soziale Differenz ist eine verdeckte soziale Diskriminierung. Man entgeht ihr, indem man darauf achtet, dass die Qualität des Essens, das Dekor, der Geschmack, der Geruch, dass all dies genau so ist, wie man es als Betreuer auch schätzen würde. Einfacher Test: Essen Sie mit den Behinderten; wenn Sie sich schütteln, dann ist etwas nicht in Ordnung.) Aber damit tritt ein weiteres Problem auf. Es ist knifflig und nicht leicht zu besprechen. Aber Tatsache ist nun einmal, dass schwer Behinderte (die Gruppe, die wir hier verteidigen) nicht immer in ihrem Essverhalten die Standards erfüllen, die für die meisten nicht Behinderten gelten.

In einem Wohnheim beobachte ich, dass eine Erzieherin wacker dabei ist, mehrere schwer behinderte Jugendliche zu füttern. Sie isst aber selbst nicht mit. Warum nicht? Sie sagt, ich könne doch sehen, dass sie alle Hände voll zu tun habe. Was ich sehe, ist Hektik. Die Erzieherin, unterstützt von einem Zivi, muss fertig werden. Die Nachbartische sind schon abgeräumt. Dort haben leichter Behinderte gespeist. Am Abend bei einem Gespräch mit allen Mitarbeitern mache ich auf dieses Zeitkorsett aufmerksam. Alle Argumente der Welt sprechen dafür, sich Zeit zu lassen und mitzuessen, schon wegen des Imitationseffektes, der nicht unwichtig ist. Was will jemand schon dagegen einwenden, wenn er zur Eile drängt und darüber belehrt wird, dass dies zu menschenunwürdiger Hast führt? Alles ginge mit Sicherheit nur schneller um den Preis von Brutalität oder um den Preis, dass die ihm Anvertrauten nicht satt werden. (Ich schicke an dieser Stelle einen Gruß hinüber in Alters- und Pflegeheime, vor allem in die privaten.)

Aber dann sagt die Erzieherin, die selbst nicht mitgegessen hat, dass da ja auch noch ein Problem sei. Bei all dem Sabbern, Schlabbern, Manschen, im Angesicht des zähen Speisebreis, der aus dem Mund laufe, konfrontiert mit Schmatzgeräuschen, mit schwerfällig mampfenden Zungen, kurzum: da vergehe einem der Appetit. Das ist mannhaft gesprochen. Es ist kaum zu leugnen, dass es schon eingefleischter Abhärtung bedarf, um dies alles locker zu ertragen. Oder?

Es kommt wie immer auch hier auf die Sichtweise an. Seltsamerweise stört uns nur selten das ungebärdige, unausgesteuerte Verhalten von Kleinkindern beim Essen. Wir amüsieren uns sogar und müssen von der Mutter gebeten werden, das Lachen zu unterdrücken. Die kleinen Prinzen und Prinzessinnen sind ja auch zu lustig mit ihren vollen Backen, dem Spinatgepruste, dem Löffelgeklopfe, dem Cola-Gespucke. Ein langer Speichelfaden beim Kleinkind, das kann niedlich sein, und für die kleine Schnoddernase ist allzeit ein Küchentuch bereit. Es ist eine kognitive Anstrengung, sich zu verdeutlichen, dass Speichel Speichel, Rotz Rotz, Speisebrei Speisebrei ist – egal, ob jemand 1 Jahr oder 100 Jahre alt ist. Ob ein Baby, ein Hund oder ein dreißigjähriger Mann sich erbricht, das ist (entfernt man die Personen) nicht zu unterscheiden. Ein Popel (verzeihen Sie, ich habe kein richtiges Wort dafür gefunden, und erstarrtes Nasensekret wäre denn doch zu gestelzt) ist ein Popel ist ein Popel ist ein Popel – gleichgültig, ob ihn ein Kind, eine Dame oder ein alter Herr unter den Autositz oder ans Tischbein gezwirbelt hat.

Aber lassen wir das und fügen wir nicht ausdrücklich dazu, dass es zur Qualität des Menschlichen gehört, im Fall des Falles auch das Widerwärtige klaglos zu ertragen. Formulieren wir stattdessen eine harte Regel, die Haupt- und Härteregel zum Ertragen des Widerwärtigen: Wir reden vom professionellen Umgang mit schwer Behinderten. Wenn jemand sich dazu entschließt, dafür bezahlt zu werden, wird er Ekelschranken abgebaut haben müssen. Wenn nicht, muss er gefeuert werden. Gnadenlos! Denn er verletzt die Professionalität eines Berufsstandes. Der Straßenarbeiter muss das Wetter, der Leichenbestatter die Leichen, der Metzger das Blut, der Friseur die Haare, der Zoowärter den Tiger aushalten; die Betreuer von schwer Behinderten müssen (sonst wären sie es nicht) Normabweichungen tolerieren. Sie dürfen sich nicht ekeln oder sich über Abweichungen amüsieren. Ihre Aufmerksamkeit hat anderem zu gelten als den eigenen, sozial vermittelten Empfindlichkeiten. Basta! Wie kann denn jemand Arzt sein, der nach einer Operation am Darm einer Patientin nicht in der Lage ist, ein Steak zu essen?