Im Bett mit „Tante“ Ankara

Verwandtschaftstarife

Izmir kommt aus Izmir und Ankara aus Ankara. Deswegen heißen sie auch so. Izmir hat früher als Lagerarbeiterin bei DeTeWe gearbeitet, und Ankara war verheiratet und hat ein Kind. Jetzt arbeiten die beiden Frauen in Bordellen: Izmir in Neukölln und Ankara in Kreuzberg. Es gibt nicht viele türkische Prostituierte in Berlin, obwohl die türkischen Männer lieber zu ihnen als zu allen anderen, aus Russland oder Thailand beispielsweise, gehen, weil sie denken: Die verachten mich nicht, sie sind schließlich auch Türken – und sie verstehen mich besser, wenn es drauf ankommt.

Neulich passierte es nun, dass einige junge türkische Männer in das Neuköllner Bordell kamen, in dem Izmir arbeitet. Die drei hatten nur Augen für sie. Schließlich sagte der Jüngste zu ihr: „Izmir, ich möchte mit dir aufs Zimmer gehen!“ Da erkannte sie ihn: Es war Mehmet, der Sohn ihrer früheren Nachbarin in der Muskauer Straße.

Als er noch klein war, hatte Izmir oft auf ihn aufgepasst, und im Gegenzug hatte er sie „Tante“ genannt. Später bei Grillfesten hatte sie mit ihm Ball gespielt. Jetzt musste Mehmet etwa 19 Jahre alt sein, und Izmir war gerade 33 geworden. Sie schüttelte den Kopf: Das geht nicht! „Ich bin deine Tante. Such dir eine andere“, sagte sie und wies in die Runde.

Es kommt nicht oft vor, dass eine Frau im Bordell Nein zu einem Kunden sagt. Mehmet blieb hartnäckig, und da die beiden Türkisch sprachen, wollte die Puffmutter, eine junge polnische Lesbe, schließlich wissen, worum es eigentlich ging. Izmir erklärte ihr den Fall auf Deutsch. Die anderen Mädchen, die um sie herum saßen, lachten, besonders die Afrikanerinnen. Mehmet war jung und sah gut aus: „Stell dich nicht so an“, sagten die Mädchen zu Izmir. Und die Polin knuffte sie sogar: „Los!“

Izmir ging erst einmal nach hinten in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Mehmet folgte ihr. Er stand in der Küchentür und bat sie noch einmal, mit ihm aufs Zimmer zu gehen. Izmir blieb hart. Mehmet erzählte ihr, dass sie schon mit all seinen Freunden aufs Zimmer gegangen wäre. Sie hätten ihm von ihr erzählt und von ihr geschwärmt. Außerdem hätte er immer von ihr geträumt, als er klein war – von ihr und von seiner Mutter, wie sie sich beide an ihn drücken. Das wären seine ersten feuchten Träume gewesen, sagte Mehmet und grinste sie an.

Izmir musste an Mehmets Eltern denken. Was, wenn die beiden davon erführen. Sie hätte ihren Sohn zur Unmoral verführt, würden sie ganz sicher denken. Am Ende würde ihr der Vater gar auflauern, um sie wütend zur Rede zu stellen. Das wäre furchtbar. Sie erschrak und blieb bei ihrem Nein.

Mehmet verließ mit seinen zwei Freunden das Bordell. In den Tagen und Wochen darauf bedrängte er sie jedoch weiter. Immer öfter kam er vorbei, setzte sich in die Ecke aufs Sofa und sagte: „Bitte, Izmir!“ Sie wurde zum Gespött der Mädchen, außerdem fürchtete sie, dass Mehmet irgendwann „etwas wirklich Verrücktes“ anstellen könnte.

Bei ihrer Freundin Ankara in der Kreuzberger Nachtbar war zuvor etwas ganz Ähnliches passiert. Dort erschien vor einiger Zeit ebenfalls ein junger Mann namens Alpay, der partout mit seiner „Tante“ aufs Zimmer wollte. Ankara und er waren tatsächlich über fünf Ecken miteinander verwandt. Sie hatte ihn wiederholt auf irgendwelchen Feiern getroffen, und mit der jüngsten Schwester seines Vaters war sie sogar näher befreundet.

Ankara überlegte nun kurz und sagte dann – betont geschäftsmäßig: „100 Mark, 30 Minuten.“ Er nickte, und sie gingen aufs Zimmer. Hier ergab es sich, nachdem sie sich beide ausgezogen hatten, dass er nur ihre Brüste kneten wollte, während sie ihm einen runterholte. „Du kannst ruhig stärker zugreifen, ich bin nicht so empfindlich“, sagte sie. Das Präservativ hätte sie sich sparen können. Anschließend lächelte Alpay glücklich, zog sich an und verabschiedete sich mehrmals dankend von Ankara an der Tür.

Schon am nächsten Tag kam er wieder. Er wollte dasselbe noch einmal – und bekam es auch. Am darauf folgenden Tag tauchte er erneut auf. Ankara fragte ihn auf dem Zimmer, ob er nicht zu viel Geld für sie ausgebe. Alpay gestand ihr, dass er nur wenig verdiene, aber seine Ausgaben einschränken werde. Außerdem habe er Freunde. Diese Woche könne er jedoch nicht mehr kommen, erst in der nächsten Woche sei er wieder flüssig.

In Ankara stiegen immer mehr dunkle Vorahnungen hoch: Was, wenn er sich das Geld für die Besuche bei ihr in seiner Familie klauen würde und man dahinter käme? Was für eine Schande! Die Prostitution ist wirklich ein Übel, dachte sie beschämt, sie zieht eine Sünde nach der anderen nach sich: „Was soll ich bloß tun?“

Beide „Tanten“ denken inzwischen darüber nach, nicht nur das Bordell, sondern gleich die ganze Stadt zu wechseln, um nicht sehenden Auges ins Unglück zu laufen. Izmir will nach Mannheim und Ankara seltsamerweise nach Leipzig. In gelassenen Momenten geben sie allerdings zu, dass ihnen das hartnäckige Interesse der Jungen manchmal auch direkt gut tut.

HELMUT HÖGE