Verspätete Gerechtigkeit

von STEFAN SCHAAF

Man könnte es für einen Fall von verkehrter Welt halten: In einem Gerichtsverfahren in einer Stadt in den amerikanischen Südstaaten, die in den 60er-Jahren für ihre vergifteten Rassenbeziehungen berüchtigt war, in der es für Afroamerikaner unmöglich war, vor Gericht Recht zu bekommen, wird ein Weißer für den rassistisch motivierten Mord an vier schwarzen Mädchen zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Jury braucht nur zwei Stunden bis zum Schuldspruch, der Staatsanwalt kann seine Freude kaum verbergen. Und der Verteidiger des Angeklagten, der damals dem rassistischen Ku-Klux-Klan angehörte, kündigt Revision an. Denn in dieser Stadt werde sein Mandant nie einen fairen Prozess erhalten.

Verkehrte Welt? Kommt jetzt die späte Rache für den mörderischen Widerstand weißer Rassisten gegen die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung im Süden der USA? Nein, die Sache ist komplizierter, und die späte Gerechtigkeit hat einen bitteren Nachgeschmack. Hat es doch 38 Jahre gedauert, um dieses Urteil zu erreichen, sind doch erst zwei der vier Beschuldigten vor Gericht gestellt worden, bleiben doch viele Morde und Anschläge gegen BürgerrechtlerInnen ungesühnt, während schwarze Angeklagte vor US-amerikanischen Gerichten weiterhin härter bestraft werden als Menschen hellerer Hautfarbe.

Tote Kirchgängerinnen

Doch der Prozess gegen den heute 62-jährigen Thomas Blanton Jr. wegen des Bombenanschlags auf die 16th Street Baptist Church in Birmingham, Alabama, bei dem am 15. September 1963 die 14-jährigen Carole Robertson, Addie Mae Collins und Cynthia Wesley sowie die elfjärige Denise McNair getötet und zwanzig weitere Kirchgänger verletzt wurden, ist ein Meilenstein, eine Etappe in der Aufarbeitung der damals herrschenden Gewalt. Birmingham war berüchtigt als Ort mit der härtesten Rassentrennung und den gewalttätigsten Ku-Klux-Klan-Anhängern in Alabama. Martin Luther King Jr. hat dort wiederholt gepredigt, Aktionen geleitet und die rassistische Staatsregierung unter Governor George Wallace herausgefordert. Die Baptistenkirche in der 16. Straße war ein Zentrum der Bürgerrechtler. Birminghams Bürgermeister hat Kings Anhänger Monate zuvor mit Polizeihunden und Feuerwehrschläuchen attackiert; drei Wochen vor dem Bombenanschlag auf die Baptistenkirche in Birmingham hat King in Washington den Bürgerrechtsmarsch von 250.000 Menschen angeführt und war nach seiner „I have a dream“-Rede von Präsident Kennedy im Weißen Haus empfangen worden.

Noch in den 60er-Jahren wäre der Prozess gegen Blanton nicht möglich gewesen, die Jury hätte aus weißen Männern bestanden, sagt Staatsanwalt Doug Jones, der die Anklage gegen Blanton vertrat. Jetzt setzte sie sich aus einem Afroamerikaner, drei schwarzen und acht weißen Frauen zusammen, die sich von den nicht immer hieb- und stichfesten Beweisen gegen Blanton nicht beirren ließen. Einige Zeugen sind inzwischen verstorben, einer hatte kürzlich einen Schlaganfall. Die wesentlich besser begründete Anklage gegen Blantons mutmaßlichen Mittäter Bobby Frank Cherry wurde vor einigen Wochen wegen Zweifeln an dessen Zurechnungsfähigkeit abgetrennt.

Im Prozess schilderte Reverend John Cross, der Pastor der Kirche, wie er nach der Explosion der Bombe, die während des Sonntagsgottesdienstes hochging, die Leichen der Mädchen in den Trümmern fand: „Sie lagen eine auf der anderen, eng umschlungen.“ Blantons Verantwortung für den Anschlag auf die Kirche wurde durch etliche Zeugen, die ihn als militanten Schwarzenhasser schilderten, und vor allem mittels mehrerer Tonbandaufzeichnungen nachgewiesen, auf denen er über die Planung des Attentats berichtete.

Das FBI hatte eine Wanze in seiner Küche angebracht und schnitt ein Gespräch Blantons mit seiner Frau mit. Da ging es um ein Treffen des Ku-Klux-Klans, „auf dem wir die Bombe geplant hatten“. Seine Frau fragt ihn: „Tommy, über welche Bombe sprichst du?“, und er antwortet: „Wir hatten dieses Treffen, um die Bombe zu machen.“ Bei einer anderen Gelegenheit nahm ihn ein FBI-Informant auf, als er sagt: „Die kriegen mich nicht, wenn ich meine nächste Kirche in die Luft sprenge.“ Ein anderes Mal ist er mit den Worten zu hören: „Ich geh gern mit dem Gewehr schießen, ich gehe gern jagen, und ich gehe gern Bomben legen.“ Die Anklage wertete diese Äußerungen als Geständnis und wies darauf hin, dass Blanton nur ein lückenhaftes Alibi präsentiert habe.

Das FBI benannte schon 18 Monate nach dem Attentat Blanton als einen der vier Tatverdächtigen, doch jahrzehntelang verhinderte die Bundespolizei, dass dies publik wurde und dass ihre Tonaufzeichnungen gegen die Angeklagten in einem Prozess eingesetzt werden dürfen. Es sei juristisch nicht zulässig, solche Abhörmaßnahmen zu verwenden.

1977 war Richard Chambliss, der Anführer der Birminghamer Ku-Klux-Klan-Gruppe, zu lebenslanger Haft verurteilt worden, acht Jahre später starb er im Gefängnis. 1993 einigten sich FBI-Beamte und schwarze Kirchenführer auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Blanton und Cherry. FBI-Agent Rob Langford entdeckte 9.000 Dokumente und Bandaufzeichnungen, die das FBI-Büro in Birmingham in den 60er-Jahren zusammengetragen, aber nie der Staatsanwaltschaft übergeben hatte.

Zufälle und neue Beweise

Einige andere rassistische Verbrechen aus jener Zeit sind in den vergangenen Jahren wieder eröffnet und mit Verurteilungen abgeschlossen worden. So wurde der Mord an dem Bürgerrechtler Medgar Evers 1994 durch die Inhaftierung von Byron De La Beckwith gesühnt, knapp zwanzig weitere Verfahren wieder aufgerollt. Manchmal hilft der Zufall, wie im Fall des schwarzen Landarbeiters Ben Chester White, der 1967 in Natchez in Mississippi getötet wurde. Seine Mörder wurden damals vor Gericht gestellt und freigesprochen, jetzt wurden die Prozessakten im Keller des Gerichtsgebäudes wieder entdeckt und die Ermittlungen erneut aufgenommen. Manchmal helfen neue Techniken, wie die DNA-Analyse aufbewahrter Tatbeweise. Aber vor allem ist es jungen Staatsanwälten und engagierten Juristen wie den Mitarbeitern des Southern Poverty Law Center in Montgomery, Alabama, zu verdanken, die nicht aufgeben wollten. Wie Staatsanwalt Doug Jones gestern nach dem Urteil über den Angeklagten sagte: „Diese Leute waren voller Hass. Sie glaubten, sie könnten ungestraft morden, und sie konnten es lange Zeit.“