Ramirez

Rund hundert Teilnehmenden trug zum Schluss des Kongresses am Sonntag Mittag der ehemalige Vizepräsident Nicaraguas und jetztige Schriftsteller Sergio Ramirez eine Kurzgeschichte aus seiner noch unveröffentlichten Sammlung „Katharina und Katharina“ vor. Lutz Kliche, Mitarbeiter von Ernesto Cardenal und Übersetzer zahlreicher mittel- und lateinamerikanischer Schriftsteller, besorgte die deutsche Version. Erzählt wird die Geschichte des nicaraguanischen Werbefilmers Ernesto, der auf dem mexikanischen B-Movie „Vergeben und Vergessen“ aus den frühen Fünfzigerjahren völlig unerwartet seine längst verstorbenen Eltern in Statistenrollen entdeckt. Der Statistenplot spielt in einem Nachtclub, die Eltern sind mit ihren jeweiligen Statistenpartnern in den üblichen lautlosen Dialog vertieft, der von Regisseuren so verlangt wird, damit die Szenen möglichst natürlich wirkten. Von Neugier und Ahnung getrieben, die schließlich stärker sind als die Pietät, läßt der Werbefilmer von einer Gehörlosen-Dolmetscherin die Dialoge entziffern. Das Resultat ist eines typisch mexikanischen Melodrams würdig: Ernesto ist nicht das Kind seines Vaters, sondern das des Statistenpartners seiner Mutter. Ramirez outet sich als Fan des mexikanischen Films, der bei der Beschäftigung mit Filmstatisten (“im Film gibt es keine kleineren Leute als die Statisten“) seiner Passion für die unsichtbare Geschichte der kleinen Leute nachkommt. Und immer zeichnet er dabei einfühlsam die Schicksale dieser Menschen als Teilnehmende der jüngeren Geschichte der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung vor allem Mittalamerikas. Ramirez selbst befindet sich in einer äußerst produktiven Phase: Soeben erschien „Adios Muchachos“, im Herbst werden, zunächst in Madrid und Mexiko, die insgesamt zwölf Erzählungen von „Katharina und Katharina“ veröffentlicht, an einem weiteren Werk arbeitet er zur Zeit - und in diesem Semester hat er auch noch die S. Fischer Gastprofessur für Literatur an der Freien Universität Berlin. Aus dem schriftstellernden Politiker Ramirez, so Moderator Bernd Pickert, ist nachweislich ein politischer Schriftsteller geworden. ANDREAS BULL