Sonor knirschende Schleifmaschinen

Die Stunde wissenschaftlicher Akribie: Bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik wurden vergessene Werke des amerikanischen Klangasketen Morton Feldman uraufgeführt und die Grenzbereiche neuer Musik ausgelotet

Anders als gemeinhin angenommen, muss man in der zeitgenössischen Klassik vielleicht doch von Oberflächenphänomenen ausgehen. Von Erscheinungsformen neuer Musik, die es einem erlauben, grobschlächtige Kategorien zu bilden. Das heißt nun nicht: Barock, Klassik, Romantik, Moderne. Aber es zeichnen sich doch deutlich koexistierende ästhetische Felder ab, die Merkmale von Epochen tragen.

Die auf Bühnenpräsenz beruhende Theatralik ist ein solches Merkmal – Hampelmänner, Humoristen, exaltierte Selbstdarsteller bilden das Gros dieses Genres. Dramatik sowie die Kunst, Spannungsverläufe zielsicher und handwerklich fundiert in Formverläufen zu bündeln, das ist ein anderes Merkmal, das zur Kategorie taugt. Weiter: überbordende Komplexität, mit musikalischen Verläufen, die die Wahrnehmung überfordern. Oder: sinnliche Klangaskese, mit einer auf das Innenleben einzelner Töne gerichteten Faktur.

Bei den diesjährigen Wittener Tagen für neue Kammermusik kam jede dieser Kategorien zum Zuge. Als Referenz des Festivals diente der größte Klangasket des vergangenen Jahrhunderts: Morton Feldman.

Allerdings stellten die Wittener Tage das bestehende Feldman-Bild gründlich in Frage. Der 1987 gestorbene Komponist wird seit je als Meister auratischer Klangpräsenz verehrt. Feldman genügte ein schlichtes, leise vorgetragenes „Pling“, um einen Raum schlagartig mit unwiderstehlicher akustischer Gegenwart auszustatten.

In Witten wurden am vergangenen Samstag vier unbekannte Werke des amerikanischen Komponisten uraufgeführt. Der Feldman-Rezeption hat damit die Stunde der wissenschaftlichen Akribie geschlagen. Man ist in die tiefsten Schichten des Nachlasses eingedrungen, um sich im Jahr 2001 noch mit einer Feldman-Uraufführung schmücken zu können.

Es waren vor allem vergessene Filmmusiken Feldmans, die man in Witten zu hören bekam. Das Ergebnis war – jeglichem Uraufführungskitzel zum Trotz – enttäuschend. Denn anstatt eine ästhetische Kontroverse heraufzubeschwören, wie das etwa bei den Filmmusiken von Schostakowitsch durchaus der Fall ist, sah man sich meist vor sekundäre, sich den filmtechnischen Anforderungen bedingungslos und unoriginell fügende Genrestücke gestellt.

So wertvoll die Feldman-Uraufführungen sein mögen – Witten verdient sich seinen Ruf nicht dadurch, dass es Altmeister ehrfürchtig abfeiert. Die Ausstrahlung des Festivals liegt im Gegenteil eher darin, dass man den großen, reichen Festspielen an Renommee, Gewicht und Interpretenstab in nichts nachsteht. Und dass das Programm dennoch vorwiegend von Uraufführungen junger, weitgehend unbekannter Komponisten lebt. Witten ist keine Talentschmiede, sondern längst zu einer entscheidenden Karrierehürde für Komponisten avanciert.

Dem jungen Australier und Wahlberliner Thomas Meadowcroft etwa gelang es mit umwerfender Selbstverständlichkeit, den Klanghorizont westlicher Kunstmusik um einige Zoll auszudehnen. In seinem „Ground Manual“ verkantete sich das Harmonium, jener Vorläufer der Heimorgel mit schwächlich sakralem Klang, mit dem sonoren Knirschen einer Schleifmaschine. Und trotzdem: von Attitüde keine Spur. Das kuriose Instrumentenpaar wurde – von einem Cello und einem homophonen Bläsersatz flankiert – ganz selbstverständlich in einen beinah klassizistischen Formverlauf eingebettet.

Die großen, gewichtigen Momente gehörten in Witten am Schluss dann aber doch solchen Komponisten, die ihren Meisterbrief lange in der Tasche tragen. Hans Zender hat seinen „Hölderlin lesen“-Zyklus für Sprechstimme und Streichquartett um einen vierten Teil erweitert. Das muffte nach Prätention und „großer Kunst“. Aber Zender verfügt über die Reife, Spannungsbögen mühelos auf geschlagene Stunden auszudehnen, was das souveräne Arditti String Quartet und eine furiose Salome Kammer dankbar umzusetzen verstanden. Marco Stroppa, italienischer Komponist mit Professur in Stuttgart, gelang mit „Cantilena“ das vielleicht schönste Stück des Wochenendes. Der Chor irrte in beklemmendem Dunkel – ein Gefangenenchor der Moderne, mit fahlen, fern jeder Hoffnung bangenden Stimmen.

BJÖRN GOTTSTEIN