„Ich war das nächste Drogenopfer“

Betrachtungen eines Ex-Junkies: Ein Gespräch mit Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan über Labilität und Ruhm, die Gründe für seine Heroinsucht und die Umstände seiner Rekonvaleszenz, den Neubeginn mit seiner Band und die Erotik von Kakteen

Interview MARCEL ANDERS

taz: Das neue Depeche-Mode-Album „Exciter“ ist, seinem Titel zum Trotz, ungemein ruhig und verhalten ausgefallen. Was ist aus dem Sturm und Drang früherer Tage geworden?

Dave Gahan: Der ist immer noch da. Ich bin einfach nur besser darin geworden, mich etwas zurückzuhalten, tief durchzuatmen und etwas geduldiger und toleranter zu sein – vor allem gegenüber mir selbst und meinen eigenen Gefühlen.

Woran lag es, dass dies in der Vergangenheit anders war?

In den 80ern und 90ern schien es mir so, als ob die Band größer und größer würde, und ich nicht nachkäme. Irgendwann war ich nur noch der, den die Leute in mir sehen wollten: Ich war ein Produkt, nicht ich selbst. Ich habe deswegen mehrere Selbstmordversuche unternommen.

Im Nachhinein betrachtet, waren das aber wohl eher Hilferufe, denn ich habe immer dafür gesorgt, dass genug Leute um mich herum waren und man mich finden und ins nächste Krankenhaus bringen würde. Vielleicht bestand ihr Interesse auch nur darin, dass ich noch eine weitere Platte mache, wer weiß? Es gab eine Zeit, in der ich das allen permanent unterstellt habe.

Mein Nervenkostüm hing am seidenen Faden. Mir brauchte nur ein Schnürsenkel zu reißen, und schon hatte ich wieder einen Grund, um high zu werden.

Wie kann man als Popstar, dem der Erfolg zufliegt, in so tiefe Depressionen stürzen?

Ganz einfach: Weil alles eine einzige Illusion ist. Das hat nichts Menschliches und schon gar nichts Persönliches an sich. Klar ist es toll, bejubelt zu werden und jede Menge Geld zu haben. Aber wenn man so eine schwache Persönlichkeit hat wie ich und zu viel an sich ranlässt, ist das keine wirkliche Hilfe. Entscheidend ist, dass man sich selbst findet, Antworten auf seine Fragen bekommt und sich entwickelt. Aber das ist einfach unmöglich, wenn dein Leben vollkommen durchkalkuliert ist, du nur noch von Hotel zu Hotel, Konzert zu Konzert und Studio zu Studio geleitet wirst und dich um nichts mehr kümmern musst. Man lebt dann wie in einer Seifenblase und verliert jeden Bezug zur Realität.

Der Song „Dead Of The Night“ beschreibt diesen Zustand?

Ja, und das sehr akkurat. Es ist diese typische Rock-’n’-Roll-Welt: Eben diese VIP-Bereiche in irgendwelchen Clubs, in denen vermeintliche Promis allen möglichen Blödsinn machen können. Es kam immer wieder vor, dass wir uns in einem Raum wiederfanden mit einem Haufen Leute, die wir gar nicht kannten, und die eigentlich nichts anderes können als Partys feiern, Drogen nehmen, Sex haben und saufen – wie regelrechte Zombies. Sie sitzen da rum und erzählen einander bis zum Morgengrauen, wie sehr sie dich verehren und bewundern. Wenn du sie dann aber am nächsten Tag auf der Straße triffst, tun sie so, als würden sie dich nicht kennen. Das ist eine unglaublich deprimierende Erfahrung.

Und so sah Ihr Leben in den Neunzigern aus?

Genau genommen von 1987 bis 1997, fast zehn Jahre lang. Ich hatte immer das Gefühl, mich in einer Art Dämmerzustand zu befinden, als ob ich schlafe. Ich habe gar nicht richtig wahrgenommen, was um mich herum passierte.

Hat die Band nie versucht, Sie da rauszuholen?

Doch, aber es war ein ständiges Auf und Ab. Mal war ich ein paar Wochen okay, aber dann bin ich wieder rückfällig geworden. Weil ich ein sehr willenloser, anfälliger Typ bin, haben mich manche schon abgeschrieben. Ich war das nächste potenzielle Drogenopfer nach Kurt Cobain und Brad Nowell [von der Band Sublime; die Red.].

Aber zum Glück wurde ich von Heroin irgendwann nicht mehr high. Und damit wuchs auch die Furcht, einen bestimmten Punkt überschritten zu haben. Denn wenn du nicht mehr high wirst, wachsen die Depressionen und du merkst, dass du in einer Sackgasse steckst. Anfangs fühlst du dich großartig: Du bist stark, du brauchst niemanden. Aber wenn du es übertreibst, verliert es bald seinen Glamour. Und du selbst an Kreativität.

In einem anderen Song heißt es dazu: „You’ve been hanging from a rope of mediocrity, strung out by your own insecurity“ . . .

Ich liebe diese Zeile! Das Schöne an dem Song ist, dass er von dieser Strophe an immer positiver und aufmunternder wird. Und das illustriert, dass man die Dunkelheit sehr wohl überwinden kann. Genau deshalb mag ich Martin Gores Texte. Er nimmt dich mit auf eine kleine visuelle Reise und führt dir dein eigenes Leben vor Augen.

Wie kommt es überhaupt, dass Martin Gore Ihnen so autobiografische Texte auf den Leib schneidern kann? Kennt er Sie nach all den Jahren schon besser als Sie sich selbst?

Prinzipiell schreibt Martin Gore über sich und aus seiner Perspektive. Aber die meisten Erfahrungen haben wir natürlich zusammen gemacht, schließlich haben wir in den letzten zwanzig Jahren sehr viel Zeit miteinander verbracht, und das bleibt natürlich nicht ohne Auswirkungen. Ansonsten könnte es höchstens sein, dass er mich sehr genau beobachtet – aber das ist jetzt reine Spekulation. Es ist ja auch nicht so, als würden wir uns jetzt hinsetzen und alles bis ins Detail durchsprechen.

War die Singles-Compilation von 1998 ein Wendepunkt in der Geschichte von Depeche Mode?

Unbedingt! Vor dem Album waren wir wirklich an einem toten Punkt angelangt, und keiner wusste, was als nächstes kommen würde. Ich für meinen Teil hatte riesige Zweifel, ob ich überhaupt in dieser Band weitermachen wollte.

Mit „Ultra“, dem Vorgängeralbum, sollen Sie ja nie wirklich zufrieden gewesen sein . . .

Richtig. Aber das lag nicht an den Songs, sondern an meiner Stimme. Ich wusste, was ich wollte, konnte es aber nicht umsetzen. Und das war wirklich frustrierend.

Wie kommt es, dass Ihre Stimme auf „Exciter“ teilweise so völlig anders klingt?

Ich fühle mich in meinem Körper heute einfach viel wohler, ich bin in Kontakt mit meinem eigenen Ich. Und ich denke, das hört man auch am Gesang. In den letzten Tagen bin ich von etlichen Leuten darauf angesprochen worden. Und tatsächlich habe ich diesmal einen ganz anderen Ansatz verfolgt. Statt mit Martin Gore und Mark Bell hinterm Mischpult zu sitzen, habe ich mich im Kontrollraum eingenistet und Gesangsspuren aufgenommen – um zu erkennen, wie ich klinge und wie ich meine Stimme variieren kann. Tatsächlich bin ich noch nie so an einen Song herangegangen wie an „When The Body Speaks“ oder „Good Night Lovers“. Der Gesang hat den Song in eine völlig neue Richtung geführt – er hat sich regelrecht angepasst oder auch untergeordnet.

Wie leben Sie heute?

Ich fange langsam an, das Leben zu genießen. Und das schließt auch entsprechende Verantwortungen mit ein.

Was die Beziehung zu meiner Frau angeht, kann ich mich wirklich glücklich schätzen. Und ich habe eine kleine Tochter sowie einen Sohn in England, auf den ich wirklich sehr stolz bin. Er ist dreizehn Jahre alt. Leider bin ich erst jetzt in der Lage, mich wirklich mit ihm zu beschäftigen, ihm zuzuhören. Überhaupt ziehe ich es heute vor, ein gesünderes Leben zu führen. Daraus resultiert auch die nötige Energie für alles andere – etwa, um sechs Uhr morgens aufzustehen und meiner Tochter Frühstück zu machen. Es ist ein tolles Gefühl, beim Aufwachen ihre Stimme zu hören. Solche Dinge habe ich in der Vergangenheit nicht zu schätzen gewusst.

Nehmen Sie noch an therapeutischen Sitzungen teil?

Ja, das muss ich einfach. Wenn ich weiterhin clean bleiben will, muss ich daran arbeiten – mit derselben Energie, die ich früher aufgewendet habe, um täglich high zu werden.

Derzeit fühle ich mich wie neu geboren. Aber ich musste meine gesamte Umgebung ändern, meinen kompletten Freundeskreis. Ich umgebe mich nur noch mit Leuten, die sauber sind und die mir helfen wollen. Es ist schwierig, das jemandem zu erklären, der kein Abhängiger ist oder war. Aber wenn du dich in einem Raum voller Leute befindest, die dieselben Probleme haben wie du, dann ist das unglaublich angenehm. Es macht mir nichts aus, anderthalb Stunden nur da zu sitzen und mir deren Geschichten anzuhören. Es baut mich auf.

Völlig abstinent sind Sie allerdings nicht – Sie rauchen immer noch Zigarillos.

Ja, das stimmt. Ich versuche, nicht mehr als fünf am Tag zu rauchen, und bin auch sonst sehr vorsichtig in allem geworden. Ich jogge auch viel – etwa sechs bis zehn Kilometer pro Tag, danach bin ich immer ziemlich platt. Aber das Gute daran ist: von Sport bekommt man am nächsten Tag keinen Kater.

Warum erfolgt Ihre musikalische Aufarbeitung dieser Zeit erst jetzt, und nicht schon 1997?

Wenn man mittendrin steckt, fehlt einem oft die nötige Distanz, um sich selbst zu analysieren. Dazu war ich definitiv nicht in der Lage. Ich habe sehr lange an einem dunklen Ort gelebt, mit wenig Wärme und noch weniger Licht. Martin Gore wusste, dass es wenig Sinn machen würde, mich zu jener Zeit damit zu konfrontieren. Es war alles noch zu frisch.

Also hat er gewartet, bis ich mich mit seinen Texten identifizieren kann und nachvollziehe, worum es darin geht und welche Gefühle darin stecken. Eben, weil ich sie selbst erlebt habe.

Wie ist der Kaktus auf dem Cover von „Exciter“ zu verstehen? Ist er ein Symbol? Und wenn ja, für was?

Gute Frage. Es ging uns darum, eine Blume oder Pflanze zu finden, die etwas Organisches und Warmes ausstrahlt. Es sollte ein aufregendes Image sein, mit viel Sex-Appeal . . .

Ein sexy Kaktus?

Warum nicht? Die Kurven und Formen sind sehr warm und einladend, auch die Farbe ist sehr lebendig. Es reflektiert das Gefühl, das wir derzeit haben, als Band wieder zusammenzuarbeiten. In Kalifornien haben wir dann diese Kakteen gefunden, und unser Fotograf Anton Corbijn entschied sich, sie direkt von oben abzulichten.

Mit einem spitzen Stachel . . .

Diese Art ist in Kalifornien sehr verbreitet. Sie werden ziemlich groß und sind sehr resistent. Blüten haben sie keine. Sie sehen einfach nur monumental aus.