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: Hotelflure, Godard-Schlangen, Pressezentren: David Lynch ist überall

Kein Platz auf der Couch

David Lynch ist überall. Beispielsweise liegt mein Zimmer in Cannes ganz am Ende eines langen, dunkelbraun tapezierten Flures. Er ist so düster, dass die verblichenen Hunde- und Katzenstiche mit der Wand zu verschwimmen scheinen. Einer dieser Gänge also, in denen man bei David Lynch durchaus spurlos verschwinden kann. Wenn ich ihn durchquert habe, dann hat es für einen winzigen Augenblick etwas Beruhigendes, den Schlüssel in der Tür knirschen zu hören (obwohl dahinter auch nur eines dieser düsteren braunen Zimmer liegt, vor denen man sich bei Lynch ja ebenfalls in Acht nehmen muss).

In Lynchs neuem Film werden immer wieder Frauen von solchen ockerfarbenen Interieurs verschluckt, wobei nie ganz klar wird, ob sie tatsächlich verschwunden oder in eine andere Wirklichkeitsebene oder in den Traum eines anderen Menschen übergegangen sind.

Schon am Anfang, als eine junge adrette Frau am Flughafen ankommt, scheint irgendetwas nicht zu stimmen: Ein ältliches Ehepaar lächelt eine Spur zu werbemäßig, das Licht ist ein bisschen zu grell und ein in seiner Buntheit geradezu obszönes Transparent schreit „Welcome to Los Angeles“. Damit wären wir schon beim Thema. Mit einem tiefen, kaum wahrnehmbaren Brummen der Tonspur impft uns Lynch schon am Anfang von „Mulholland Drive“ einen Generalverdacht gegenüber dem Wirklichkeitsanspruch der Bilder ein.

Es geschehen ja auch merkwürdige Dinge. Ein Mann geht in ein Diner-Café und beunruhigt die Gäste mit der Erzählung eines Albtraums. Im Hinterhof des Diners grunzt ein verschrumpeltes, langhaariges Wesen, das in etwa aussieht wie ein Yeti. Ein Filmregisseur verliert seine Arbeit, seine Freundin und sein Geld. Eine wunderschöne elegante Frau wird am Mulholland Drive in einen Autounfall verwickelt und verschwindet im nächtlichen Los Angeles.

Rita, die manchmal auch Camilla heißt, nachdem sie beim Zusammenstoß ihren Namen, ihr Gedächtnis und ihre Vergangenheit verloren hat, ist das geheimnisvolle Zentrum von Lynchs Film. Sie ist das Zentrum des Begehrens, der Rätsel, der erotischen Projektionen, Eifersüchte und Wünsche. Hilflos und ohne Erinnerung landet sie bei Betty.

Zwischen den beiden Frauen entsteht eine Liebesgeschichte, die eigentlich schön sein könnte, wäre da nicht dieses gemeine Brummen der Tonspur. „Just like in the movies“, sagt Betty irgendwann, und tatsächlich ist das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit, echten und gespielten Gefühlen, Wachen und Träumen, Hollywood und den Leuten, aus denen es besteht, das Leitmotiv dieses Film.

Mit „Lost Highway“ hat Lynch vor sechs Jahren einen Film in der Wahrnehmung eines Schizophrenen gedreht, aber diesmal liegen die Dinge noch viel komplizierter. Vielleicht ist „Mulholland Drive“ ein Traum aus Bettys Tagesresten, vielleicht ist es der Traum einer Toten, ein Traum des Kinos oder auch ein Pilotfilm zu weiteren Lynchs. Sicher ist nur, dass nichts sicher ist, und wenn es überhaupt so etwas wie eine Lösung gibt, dann weiß sie nur das Yeti-hafte Ungeheuer, das wahrscheinlich immer noch hinter dem Diner lauert. Auf der Pressekonferenz zu „Mulholland Drive“ verweigerte Lynch jedenfalls auch nur den klitzekleinsten Ansatz einer Traumdeutung. Und auf die ungeduldige Frage einer amerikanischen Journalistin, ob sein Kino nur mit psychoanalytischer Vorbildung zu verstehen sein, erklärte der Regisseur: „Irgendwie bin ich ganz froh, dass sich ein Film nicht auf die Couch legen kann.“

Übrigens sind in Cannes nicht nur die Hotelzimmer bedrohlich, auch ins Kino gehen ist gefährlich. Gestern fast von der Godard-Schlange zerquetscht, heute in der Lynch-Absperrung verheddert. Aus der ekelhaften, zwischen strampelnden Frauenbeinen angesiedelten Aussaugszene in Claire Denis' Vampirfilm „Trouble Every Day“ ist eine junge Frau herausgerannt und danach benommen die Treppe hinuntergestürzt. Es handelt sich um die freundliche Dame, die im Pressezentrum für den Versand der E-Mails zuständig ist. Heute stand sie wieder lächelnd vor den Computern, mit Halskrause. Just like in the movies.

KATJA NICODEMUS