Das gute Schwein bleibt gern daheim

Mit Utopien nach Moskau, geläutert zurück, und Trinken ist ja auch sehr schön: In Pawel Lungins „Russischer Hochzeit“ feiert sich die Provinz selbst

Pawel Lungins Film bietet reichlich Stoff für ästhetisch und ethnografisch interessierte Betrachtung

von BARBARA SCHWEIZERHOF

Die Provinz ist der Ort, an dem alle davon träumen, eigentlich woanders zu sein. Das ist in Russland nicht anders als in der übrigen Welt. Nach Moskau, nach Moskau wolle er, wie die drei Schwestern in Tschechows Stück, bekennt der Polizeichef des Kaffs abseits der Hauptstadt, in dem die russische Hochzeit stattfindet. Für dieses Ziel ist er sogar bereit, die Feier platzen zu lassen und den Bräutigam hinter Gitter zu bringen. Pawel Lungins Film zeigt einmal mehr: Der Städter mag die Volkstümlichkeit genießen, das Volk aber, wie von Brecht so scharfsinnig beobachtet, ist gar nicht tümlich.

Die Stelle des angereisten Städters nimmt bei Lungin der Zuschauer ein. Zusammen mit der zukünftigen Braut sitzt man in der Eingangssequenz im Bus; Männer in verbeulten Trainingsanzügen, Ferkel als Lebendgepäck auf dem Schoß und die verstärkte Präsenz von Uniformen machen schnell klar, wo man sich befindet. Von den Unebenheiten der Landstraße geschüttelt, lässt die Kamera ihren Blick durch den Bus schweifen und bleibt immer wieder an Tanja hängen, die in diese rohe Umgebung nicht so richtig passen will, deren suchender Blick nach draußen aber sehr wohl die heimatliche Vertrautheit verrät.

In wenigen Einstellungen hat die Kamera das typische Provinzschicksal eingefangen: Die ehemalige Dorfschönheit ist in die Großstadt aufgebrochen, um Model zu werden, ist dort – wahrscheinlich an der Liebe – gescheitert und kehrt nun zurück, etwas ratlos, aber entschlossen, dem eigenen Ursprung fortan treu zu bleiben. In derselben Nacht noch bietet sie sich ihrem einstigen Jugendschwarm Mischa in der Dorfdisko zur Frau an – und der greift zu. So nimmt das Brauchtum seinen Lauf.

Hochzeiten sind gute Anlässe, um die Sinnfälligkeit von Ritualen zu illustrieren: Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Aufbruch und Ursprung, zwischen Alltag und Fest. Und nirgendwo werden Rituale so ernst genommen wie in der Provinz. Ein Film über eine Provinzhochzeit verspricht, über die Organisation des Rituals die Probleme der ganzen Gesellschaft anzusprechen, während gleichzeitig Raum bleibt für das dramatische Nebeneinander einer Vielzahl an Figuren.

Auf diese Weise bietet Lungins Film reichlich Stoff für entweder die ethnografisch oder die ästhetisch interessierte Betrachtung. So werden in der „Russischen Hochzeit“ alle zeitgemäßen „typisch russischen“ Probleme aufgezählt: die ausbleibenden Lohn- und Rentenzahlungen, die Fallhöhe zwischen hauptstädtischem Reichtum und provinzieller Armut, die Übernahme der Machtpositionen durch Neureiche, die heuchlerische Aufwertung der orthodoxen Kirche, der Alkoholismus der Männer etc.

Den Eigentümlichkeiten einer russisch-französisch-deutschen Koproduktion ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, dass all diese Punkte inszeniert und zusätzlich noch mindestens einmal ausgesprochen werden, wohl damit sie der westliche Zuschauer auch ja versteht. Was in Russland selbst zu einer zwiespältigen Aufnahme des Films führte. Zu weit sah man dort die Charaktere in Problemstereotype abgleiten, die speziell für die „europäische“ Auswertung gemacht seien.

Andererseits aber bilden Ritual und Sozialkritik für den Regisseur lediglich den Anlass, ein ziemlich furioses Ensemblespiel in Gang zu setzen. Aufgenommen von einer agilen Kamera, die sich wie ein Besucher unter die Menge mischt, agieren Laiendarsteller neben Schauspielern und reibt sich der vorgegebene Ablauf des Festes an den unvorhersehbar eintretenden Ereignissen. Daraus entsteht ein energetischer Sog, der das Kinopublikum unweigerlich in seinen Bann zieht.

Fast unmerklich wird man dabei zur Nachsicht mit den Figuren verführt, gerade da, wo sich die netten Provinzler als gar nicht so nett herausstellen. Garkuscha mag ein unverbesserlicher Alkoholiker sein, der das ihm anvertraute Geld gewissenlos versäuft und auch noch seine Frau prügelt, gleichzeitig ist er doch ein guter Freund, der keinen persönlichen Einsatz scheut, um das von ihm angerichtete Unheil wieder gutzumachen. Dass dieser Einsatz darin besteht, die Tante der Braut zu vergewaltigen, die das in hysterischem Schrecken auch noch irgendwie gut findet, ist man da schon als eigenwilligen Protest gegen „künstlich“ auferlegte Political Correctness zu bewerten gewillt.

Unterschwellig feiert sich die Provinz in diesem Film vor allem selbst: als Ort des Wirklichen, des Einfachen und der Originale. So groß die Probleme sein mögen, immer fällt hier jemand etwas ein, wie sie zu überwinden wären, und wenn der intrigante Polizeichef die Hoffnung begraben muss, nach Moskau zu entkommen, dann nimmt man ihn eben versöhnlich in die große Trinkergemeinschaft wieder auf. Bei so viel Provinzaffirmation ist man froh, dass im Schlussbild doch noch eine Kinokonvention über den Realismus siegt: Das Paar, das eigentlich durch die Hochzeit so richtig im dörflichen Leben ankommen wollte, muss wieder fliehen. Wie es sich gehört, fahren sie im Morgengrauen einer unbekannten Zukunft entgegen – die Provinz lassen sie hinter sich.

„Russische Hochzeit“. Regie: Pawel Lungin. Mit Maria Mironowa, Marat Bascharow u. a. Frankreich, Russland, Deutschland 2000, 114 Min.