Der Sinn des Lebens

Eine Kurzgeschichte von Robert Naumann

Ich lief an den Plattenbauten lang, immer ums Karree. Allein. Ohne nervige Kinder, die getragen werden wollten, ohne nervige Frau, die an mir rumnörgelte. Ich musste einfach mal abschalten, den Kopf frei kriegen. Nachdenken. Auch wenn neulich beim HNO-Arzt die Ursache für meine Kopfschmerzen in der Diagnose gipfelte, ich hätte ein Vakuum im Kopf: Ich wollte es versuchen, mit dem Nachdenken.

Es gab so vieles, worüber ich nachdenken musste. Warum war das Waschbecken im Bad immer verstopft? Vor allem: Warum reinige letztlich immer ich den Abfluss? Warum sagt meine Tochter, wenn ich abends erschöpft nach Hause komme: „Papa, geh wieder arbeiten!“? Warum war gestern schon wieder verschimmelter Käse auf meinem Frühstücksbrot? Warum ist Gerhard Schröders Halbbruder arbeitslos? Wann bekommt Gunther Emmerlich endlich eine große Samstagabendshow? Gibt es einen Gott?

Die letzte Frage beantwortete sich von selbst. Vielleicht würde ein Gott es mit verschimmeltem Käse mal nicht so genau nehmen, aber würde Er zulassen, dass Gunther Emmerlichs Entertainerqualitäten dermaßen unterschätzt werden?!

Die anderen Probleme waren schwieriger zu lösen. Sie ließen mich am Sinn des Lebens zweifeln. Zumindest am Sinn meines Lebens. Für wen hatte meine Existenz überhaupt eine Bedeutung? Ja, doch, mir fiel etwas ein. Einmal im Monat, am fünfzehnten, am Lohntag, da war meine Frau meiner Mutter ganz dankbar, dass sie mich vor sechsundzwanzig Jahren ihrem Schoß entschlüpfen ließ.

Nebenbei: Ich wurde so krank und schwach geboren, dass die Ärzte meinten, es hätte keinen Sinn mit mir, ich würde eh sterben. War mein Leben vorgezeichnet? Immerhin, mir wurde jetzt etwas leichter ums Herz. Seit vierzehn Monaten arbeitete ich, das waren vierzehn Monate, an denen mich jemand brauchte, vierzehn Monate, an denen meine Existenz zumindest für meine Frau von größter Bedeutung war. Dafür quält man sich gern, da weiß man, wofür. Anderen Leuten geht es viel schlechter. Zum Beispiel Gerhard Schröders Halbbruder Lothar.

Bestimmt nörgelt dem seine Frau immer total rum, weil er nur so wenig Arbeitslosengeld kriegt. Sie kann sich nicht mal eine Eintrittskarte für die „California Dream Men“ leisten und fragt sich verständlicherweise nach dem Sinn ihres Lebens. Und Lothar? Er vegetiert so dahin und lebt nur noch für die Viertelstunde am Abend, die Tagesschau, in der Hoffnung, sein Halbbruder würde ihn einmal, nur ein einziges Mal im Fernsehen grüßen.

Immer wieder spult sich vor seinem geistigen Auge die gleiche Szene ab: Gerhard beendet eine Rede im Bundestag, tosender Applaus, da tritt er noch mal ans Mikro, schaut in die Kamera und spricht mit zitternder Stimme: „Und dann wollte ich noch den Lothar grüßen.“ Ja, dann wäre sein Leben gelebt. Nur zehn Sekunden, die ihn den ganzen Kackmist vergessen ließen.

Ich gönne es ihm. Zweiundzwanzigmal war ich jetzt ums Karree gelaufen und hatte vor lauter Nachdenken nicht immer auf meine Füße geachtet. Ich war in sämtliche Hundekackhaufen gelatscht, die ums Karree verteilt gewesen waren. Zirka zehn Zentimeter hohe Plateausohlen hatten sich an meinen Schuhen gebildet, was sich irgendwie als nachteilig für weiteres Spazierengehen erwies. Aber es gibt Schlimmeres, das hatte ich jetzt begriffen.