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: Kommunisten im Jenseits. Ist das möglich?

Zeit des Pathos

Die Musik von Bach ist der Beweis für die Existenz Gottes. Steht jedenfalls auf dem Arm von Isabelle Huppert. Wenn Huppert mit diesem temporary tattoo durch die Pressekonferenzen und Empfänge von Cannes läuft, ist das dann der Beweis dafür, dass sie spinnt? Dass sie sich einen Zacken zu viel mit ihrer Rolle in Michael Hanekes Film „Die Klavierspielerin“ identifiziert? Vielleicht verkündet Huppert einfach als schauspielerisches Körperplakat, was Harald Schmidt schon lange weiß, dass nämlich nach den spaßigen Relativismen und Zynismen die große Zeit des Pathos angebrochen ist.

Wenn man die Filme dieses Festivals noch einmal in der Erinnerung durchgrast, dann heißt das große Thema Sterben. Man könnte man auch von einer Metaphysik des Verschwindens sprechen, Kino heißt ja ohnehin, dem Tod bei der Arbeit zusehen. Gestern noch beförderte Alexander Sokurov, der sich langsam zum Spezialisten für Potentaten mausert, Wladimir Iljitsch Lenin ins Jenseits – sofern das bei einem Kommunisten überhaupt geht. Unter den Grauschleiern und Grünfiltern der Geschichte lässt sich der Siechende die letzte Suppe servieren, fährt zur allerletzten Jagd, bei der nicht mehr gejagt wird, und empfängt einen undurchschaubaren Georgier mit dickem Schnurrbart, der jetzt die Dinge in die Hand nimmt. „Taurus“ ist ein einziges elegisches Aushauchen, in dem alles vergangen und vergänglich ist und die Macht sowieso.

Auch Nanni Moretti, der sich in seinen filmischen Tagebüchern eigentlich auf ganz andere Tonlagen kapriziert hatte, will es diesmal wissen. In seiner letzten Selbstbefragung „Aprile“ drehte sich alles um die Geburt, in seinem neuen Spielfilm, „La stanza del figlio“, geht es um die Trauer einer Familie, die gerade ihren Sohn verloren hat. Moretti selbst spielt den Vater, einen Psychoanalytiker, der mit den Lebensweisheiten, die er seinen Patienten verkündet hat, nun selbst am Ende ist. Vielleicht ist Moretti einfach ein mittelmäßiger Schauspieler, vielleicht plätschert in seinem Film zu viel Klaviermusik, vielleicht sind es auch die ewigen Psychopatientenwitze, die gegen die andere große wirkliche Trauer ausgespielt werden – als unausgegorenes Stück Kino zwischen privatistischer Menschelei und gediegener Küchenpsychologie war „La stanza del figlio“ trotzdem der Wettbewerbsfilm der rot geweinten Äuglein.

Wie kann man dem Tod überhaupt auf die Spur kommen? Vielleicht, indem man ganz einfach Schuhe filmt. Schöne handgenähte englische Lederschuhe für 900 Franc, die sich Michel Piccoli in der Rue de Rennes kauft und damit zufrieden durch Paris läuft. In Manoel de Oliverias Film hat er gerade seine Frau, seine Tochter und seinen Schwiegersohn verloren, aber darüber wird nicht weiter geredet. „Ich gehe nach Hause“ ist ein Film über einen alten, müden Theaterschauspieler, dem langsam klar wird, dass er ein alter, müder Theaterschauspieler ist. Zwar bekommt er noch Kinoangebote, aber was soll schon groß bei einer deutsch-französischen Koproduktion von „Ulysses“ mit John Malkovich als Regisseur herauskommen? Die ewige aufwendige Maske, das hektische Agentengetue, die albernen Fernsehangebote, die Textlernerei – das ganze Theater neigt sich dem Ende zu. Bei Oliveria geht es nicht um Rührung, sondern um das langsame Eintreten in einen anderen letzten Lebenszustand, gefilmt im Rhythmus von Piccolis Spaziergängen durch Paris. Einmal kokettiert der Film selbst mit der Senilität und lässt Piccoli an zwei verschiedenen Tagen im Café dieselbe Ausgabe von Libération lesen. Irgendwie hat es auch etwas Schönes, dass den unpathetischsten und heitersten Todesfilm dieses Festivals ein Regisseur gedreht hat, der gerade 92 Jahre alt geworden ist.

KATJA NICODEMUS