Die kalkulierte Anarchie

Sehnsucht nach dem Stahlgewitter der Rockmusik: In seinem Buch „England’s Dreaming“ macht Jon Savage die Geschichte des Punk am Aufstieg und Ende der Sex Pistols fest und zeichnet nebenbei ein Sittengemälde Englands vor der Thatcher-Ära. Nun liegt die deutsche Übersetzung vor

von ANDREAS HARTMANN

Der Tag, an dem Punk starb, war der 14. Januar 1978. An diesem Tag gaben die Sex Pistols ihr letztes Konzert im „Winterland“, San Francisco. Danach ging nichts mehr. Die Band war am Ende und Punk tot.

In seiner fulminanten Chronik der Punkjahre in England von 1975 und 1979 rekapituliert Jon Savage die Geschichte einer Band, die die (Musik-)Welt verändern sollte. Savage gehört neben Lester Bangs, Nick Kent, Julie Burchill und Greil Marcus zu den Großen seiner Zunft und erarbeitete sich diesen Ruf in den Tagen des Punk durch Artikel in Sounds oder dem damals wichtigen Magazin Search & Destroy.

15 Jahre später schrieb er dann seinen 600-Seiten-Wälzer. Dessen deutsche Übersetzung erscheint nun in gekürzter Fassung weitere neun Jahre später. Savage fährt in „England’s Dreaming“ die einzelnen Stationen der Sex-Pistols-Karriere akribisch ab, zeichnet nebenbei aber ein monströses Sittengemälde Englands in der Zeit vor dem Thatcherismus. Geschickt verwebt er darin die Aussagen der Punk-Protagonisten und fasst so die Geschehnisse objektiv-unmittelbar zusammen.

Savage erzählt, wie der Boutiquenbesitzer Malcolm McLaren Mitte der 70er in New York landet und dort die legendäre Szene um das CBGB vorfindet. Bands wie die Ramones oder Television erscheinen ihm mit ihrer ungehobelten Spielfreude und ihrem Hang zu Selbstzerstörung und Nihilismus als perfekte Antithese zur Langeweile in England, wo Dinosaurier wie Genesis oder Yes als Speerspitze der Avantgarde gelten.

Zurück in London erkennt McLaren, dass er nicht der Einzige ist, der sich nach einem Stahlgewitter der Rockmusik sehnt. Die Klamotten, die er und Vivienne Westwood in ihrem Fetischladen „Sex“ verkaufen, werden immer abgefahrener, ihr Kundenstamm nimmt zu. Doch McLaren will mehr: Er will die Gesellschaft herausfordern – und nebenbei jede Menge Kohle machen. So trommelt er ein paar Jungs zusammen, die möglichst asozial aussehen, vor allem aber keine langen Haare wie die Hippies haben sollen. Paul Cook, Glen Matlock und Steve Jones bilden jenen Haufen von Nichtskönnern, den er The Sex Pistols tauft. John Lydon, der später als Johnny Rotten bekannt werden sollte, wird der Sänger der Band, weil McLaren das T-Shirt so gefällt, das dieser beim ersten Zusammentreffen trug: ein Pink-Floyd-T-Shirt, auf dem die Augen der Bandmitglieder ausgestochen waren. Darüber war „I hate“ gepinselt.

Dem am Situationismus Debords und dem Anarchismus Proudhons geschulten McLaren ging es von Anfang um Aufmerksamkeit um jeden Preis. Allerdings fiel es ihm zunehmend schwer, Auftrittsmöglichkeiten zu organisieren, weil die Sex Pistols bei ihren Auftritten ihren Dilettantismus durch Rüpeleien und Schlägereien mit dem Publikum zu kompensieren pflegten, was ihnen etliche Hausverbote einbrachte. Savage beschreibt McLaren als Diktator, ohne den seine Schützlinge zumindest zu Beginn ihrer Karriere keinen Schritt unternehmen durften. Die Sex Pistols betrachtete er als sein Produkt. Nicht nur in seiner Autobiografie „No Irish, No Blacks, No Dogs“ rechnete Lydon später deswegen mit McLaren ab und stellte dessen Selbstinszenierung als „Erfinder“ der Sex Pistols in Frage. Lydon kommt auch bei Savage zu Wort. Dort beklagt er sich, dass McLaren zwar wunderbare Skandale in die Wege leiten konnte. Letztlich habe aber immer er, John Lydon, eins auf die Fresse bekommen von aufgebrachten Leuten, für die die Sex Pistols so etwas wie die RAF Englands waren.

Schon bald, nachdem Sid Vicous in die Band eingestiegen war, galten die Sex Pistols als kontroverseste Band Englands und Vorhut einer Bewegung, die sich so schnell in verschiedene Richtungen entwickelte, dass sie von der Plattenindustrie kaum in den Griff zu bekommen war. McLaren nutzte deren Verwirrung, um jenen legendären Deal mit der EMI zu machen, die sich, nachdem sie hörte, dass sich auf der nächsten

Sex-Pistols-Single „the fascist regime“ auf „god save the queen“ reimen sollte, umgehend wieder aus dem Vertrag herauskaufte. England tanzte Pogo, und „Anarchy in the UK“ lag in der Luft. Doch kurz darauf war der Traum schon zu Ende. Nach dem Konzert im „Winterland“ kam das Junkie-Traumpaar Sid Vicious und Nancy Spungen unter nie ganz geklärten Umständen ums Leben, und John Lydon, der sich nach den Sex Pistols nie wieder Johnny Rotten nennen ließ, sah McLaren wegen irgendwelcher Vertragsklauseln vor Gericht wieder.

Aufstieg und Ende der Sex Pistols bilden bei Savage die Eckpfeiler einer letztlich vor allem ästhetischen Revolution. Was danach kam, das deutet er bestenfalls an. Ihm geht es nur um eine ganz bestimmte Geschichte. Es gibt natürlich viele andere mehr: Die „Oral History Of Punk“ zum Beispiel, eine Art „Hollywood Babylon“ der Drei-Akkorde-Musik. Oder „Please Kill Me“ von Legs Mc Neil und Gillian McCain, die ihre Geschichte in Andy Warhols „Factory“ beginnen lassen. In diesem Buch, wie auch jüngst in einem aktuellen Sonderteil der US-Musikzeitschrift Spin, werden eher die Ramones als die Sex Pistols zu den Urhebern des Punk ernannt – der amerikanische Blickwinkel eben.

Greil Marcus, dessen „Lipstick Traces“ neben „England’s Dreaming“ das wohl wichtigste Buch über die Punk-Ära ist, setzte die Ereignisse von 1977 mit denen von 1916 im Züricher „Cabaret Voltaire“ in Bezug und ordnete Punk damit in eine Avantgarde-Tradition mit Dada und dem Situationismus ein. Solche Theorien streift Savage nur. Auch semiotische Ausführungen sucht man vergebens, wie sie Dick Hebdidge in seiner Jugendkulturen-Studie „The Meaning of Style“ angestellt hat. Jon Savages „England’s Dreaming“ will weder Cultural-Studies-Analyse noch reine Kulturgeschichte sein. Sein Buch soll vielmehr wie eine Art Truefiction-Roman von den Ereignissen künden, auf die genau das zutrifft, was Greil Marcus schon im Rolling Stone anlässlich des „Winterland“-Konzerts über Johnny Rotten schrieb: „Ein paar Minuten später war er verschwunden. Und so etwas wie ihn werden wir nie wieder erleben.“

Jon Savage: „England’s Dreaming – Anarchy, Sex Pistols, Punk Rock And Beyond“. Verlag Klaus Bittermann, 500 Seiten, 52 DM. Lesereise des Autors: 21. 5. Frankfurt, 22. 5. Köln, 23. 5. Berlin, 24. 5. Hamburg