Auch Reisen öffnet!

„Ich wehre mich dagegen, dass man sagt, die Deutschen sind ausländerfeindlich“, meint Vural Öger im taz-Gespräch

Einwanderungmuss dem Bedarfder Wirtschaft entsprechen

Interivew MARIE-LUISE GRIES

taz: Sie sind deutscher Staatsbürger. Was bringt das?

Vural Öger: Ich habe die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder andere deutsche Staatsbürger und bekenne mich zu diesem Staat und seiner Verfassung, die wichtige Menschenrechte schützt. Deutschland ist meine zweite Heimat geworden, hier habe ich mein Touristikunternehmen aufgebaut. Wichtig sind für mich Tugenden wie Weltoffenheit und Toleranz.

Und die werden Ihnen auch entgegengebracht?

Ich habe in Deutschland nie Probleme wegen meiner Herkunft gehabt und kann so leben, wie es mir gefällt: mit meiner eigenen Kultur, die sowohl deutsch als auch türkisch geprägt ist.

Viele Türken sehen sich nicht so positiv, und nicht wenige leben zurückgezogen in Deutschland. Woher kommt das?

Man hätte es ihnen von Anfang an, seit der Anwerbung von Gastarbeitern in den Sechzigerjahren, leichter machen können.

Wie denn?

Nach damaliger Vorstellung sollte ein Arbeiter drei, vier Jahre hier arbeiten und dann in sein Land zurückkehren. Die Menschen hat man dabei übersehen. Man hat diejenigen, die kamen, allein gelassen ohne ein vernünftiges Integrationskonzept.

Aber das gibt es ja bis heute nicht. Wo sollte es damals herkommen?

Die Betriebe hätten Sprachkurse organisieren können. Oder die Gemeinden hätten Abendkurse geben können: Da hätte man diesen Menschen beigebracht: Das ist unser Grundgesetz, dies ist unsere Geschichte, so funktioniert das in der deutschen Gesellschaft. Man muss ja nicht unbedingt jedem Goethe und Schiller beibringen, aber man hätte den Menschen schon generell etwas erzählen können. Dass man das versäumt hat, das war der Anfang der Parallelgesellschaften, wie wir sie heute kennen.

Ist diese Parallelgesellschaft bei uns denn überhaupt stark ausgeprägt?

Die Situation heute – Parallelgesellschaften und Ghettoisierung wie z. B. in Harburg oder Wilhelmsburg, im Ruhrgebiet oder in Kreuzberg – ist natürlich schwierig. Aber es ist noch nicht zu spät, das zu ändern.

Wie kommt man da wieder raus?

Das geht nur Hand in Hand, mit einer breit angelegten Politik des Staates in Kooperation mit zivilen Institutionen und den Medien. De facto leben heute in diesem Land 7,3 Millionen Ausländer, dann gibt es noch mehr als eine Million Deutsche ausländischer Herkunft. Und da sagen manche Politiker immer noch, wir sind kein Einwanderungsland! Die Einwanderungskommission arbeitet jetzt an Integrationskonzepten, die wir bis zum Sommer vorstellen werden.

Bessere Integration – was ist für Sie dabei der wichtigste Punkt?

Vor allem Bildung, denn ein gebildeter Mensch mit entsprechenden Berufschancen lässt sich viel besser integrieren als einer, der keine Arbeit hat. Die Lehrer sind aber nicht schuld an der jetzigen Situation. Wenn in einer Klasse 70 Prozent der Kinder Türken sind, sind die Lehrer überfordert. Auch sie müssen erst lernen, damit umzugehen. Sie müssten pädagogisch auf diese Situation eingestellt werden.

Und was erwarten Sie von den Türken?

Vor allem muss man die türkischen Frauen einbeziehen: Wenn ein hier lebender Türke eine Frau aus der Türkei heiratet und mit nach Deutschland nimmt, dann kann sie in der Regel überhaupt kein Deutsch und kennt die deutsche Gesellschaft nicht. Dann wird hier ein Kind geboren, kommt irgendwann in die Schule und kann kaum Deutsch – das ist doch unvorstellbar! Die Frau kann nach Deutschland kommen, das ist rechtlich korrekt, aber dann muss dafür gesorgt werden, dass sie die Sprache lernt und sich in die deutsche Gesellschaft integrieren kann.

Wer soll das bezahlen? Der Ehemann?

Deutschland ist kein armes Land. Wie viele Milliarden gibt man für Rüstung aus? Und da hat man kein Geld für Projekte, die den sozialen Frieden sichern? Wenn diese Menschen arbeiten, zahlen sie Lohnsteuer und Krankenkassenbeiträge. Diejenigen, die heute hier leben und arbeiten, tragen durch ihre Beiträge doppelt so viel zu den Sozialkassen bei, wie sie beanspruchen. Da kann man doch in Schulen und Kindergärten investieren!

Das würde reichen?

Nein, man muss noch mehr tun. Es geht einfach nicht an, dass ein Siebzehnjähriger, der eine Lehrstelle sucht, 100, 150 Bewerbungen schreibt und abgelehnt wird, weil er einen türkischen Namen hat. Oder dass jemand eine Wohnung nicht einmal besichtigen darf, weil der Name ausländisch klingt. Ich kenne leider immer noch solche Fälle! Wir brauchen also auch ein Antidiskriminierungsgesetz.

Ein anderes Deutschland, was bedeutet das?

In Deutschland herrscht ein kollektives, historisch gewachsenes Selbstverständnis als Abstammungsnation: Jahrhundertelang hieß es: Deutsch ist, wer von Deutschen geboren ist. Das ist so fest drin, dass man mich heute sogar manchmal fragt: „Wie ist bei euch denn das Wetter?“ Ich antworte dann: „Wo, hier in Hamburg?“ – Und so ergeht es jemand aus der zweiten und dritten Generation in Deutschland. Dabei kann es sein, dass dieser Mensch die Türkei gar nicht kennt!

Was wäre die Aufgabe der Politik?

Es ist Aufgabe der Politik, zu sagen: Wir werden eine offene Gesellschaft, in der Menschen aus verschiedenen Kulturen, unter Beachtung der Verfassung, gemeinsam leben können.

Ein Plädoyer für eine multikulturelle Gesellschaft?

Deutschland ist schon multikulturell geworden. Selbstverständlich steht die Kultur der Aufnahmegesellschaft im Vordergrund. Es ist ein Austauschprozess: Die neuen Migranten bringen Neues in die deutsche Kultur, und sie nehmen von der deutschen Kultur etwas an. Kultur ist nichts Bleibendes. Die Kultur Deutschlands in den Dreißigerjahren war doch anders als die heutige!

Die Zuwanderungskommission wurde erst nach den Forderungen gebildet, die die Wirtschaft gestellt hat. Zählen also letztlich nur wirtschaftliche Interessen?

Einwanderung ist eigennützig: Sie muss dem Bedarf der Wirtschaft entsprechen und sie muss die demografische Entwicklung Deutschlands fördern. Das Asylrecht darf man aber nicht in den gleichen Topf werfen, es ist ein Grundrecht und uneigennützig. Es ist also wirklich nicht so, dass man nur an den Bedarf der Wirtschaft denkt.

In einem Punkt aber schon: Es sollen nur Qualifizierte einwandern dürfen, die die Wirtschaft brauchen kann.

Es ist doch ganz einfach: Wenn Menschen hierher kommen, die keinen Beruf haben, werden sie alle den Sozialkassen zur Last fallen. Was nutzt es, wenn zehntausende Menschen hierher kommen, die keine Chance auf Arbeit haben? Die Struktur der Wirtschaft hat sich doch total verändert: Der Gastarbeiter der 60er-Jahre war jemand, der manuell arbeiten sollte und konnte. Heute braucht man andere Qualifikationen. Natürlich benötigt die Wirtschaft nicht nur IT-Experten, sondern auch Krankenpfleger oder Köche oder Kellner, aber auch die haben ihren Beruf gelernt. Wir können einfach nicht alle wirtschaftlichen Problemfälle der Dritten Welt hier lösen.

Das ist also ein globales Problem?

Ja. Die armen Länder werden immer ärmer. Wenn man wirklich global, also auch langfristig denkt, kann es nicht einfach nur darum gehen: Wohin kann ich meine Ware exportieren, wo ist mein größter Profit, wo habe ich die billigsten Arbeitskräfte? Eine globale Ordnung müsste geschaffen werden. Man darf dabei nicht egoistisch an sich oder seine eigene Region oder Europa denken oder an Japan oder die USA, denn außerhalb dieser großen Wirtschaftskreise leben zwei Drittel der Menschen. Die sollen doch auch ihre Chance haben, in ihren Ländern!

Einwanderung soll gefördert werden, weil sonst „die Deutschen aussterben“. Klappt das?

Die demografischen Schätzungen differieren zwischen 50 und 60 Millionen Einwohnern im Jahre 2050. Dieses Problem allein durch Migration zu lösen, das wird schwierig sein. Deutschland wird auf jeden Fall anders aussehen als heute. Wir brauchen jedes Jahr etwa 500.000 junge Fachkräfte aus dem Ausland. Das wären in zehn Jahren fünf Millionen neue Zuwanderer. Ob die Gesellschaft darauf vorbereitet ist und die Situation verkraften kann, das ist die Frage. Die Menschen, die hier dauerhaft wohnen, muss man integrieren, um ein harmonisches und respektvolles Miteinander zu ermöglichen.

Ist das eine Art Botschaft an die Deutschen?

Den Deutschen sage ich: Ihr seid viel weiter als einige eurer Politiker. Ich wehre mich dagegen, dass man sagt, die Deutschen sind ausländerfeindlich. Das sind sie nicht, es gibt nur eine solche Randgruppe. Man hat den Deutschen 150 Jahre lang suggeriert, dass das Deutschtum im Vordergrund steht, deutsche Kultur das höchste Gut ist. Sie sind auch durchaus sehr von sich eingenommen. Zu Recht: Vieles machen sie besser als manche andere. Aber durch vieles Reisen, durch viele Ausländer sind sie viel offener geworden, offener, als manche Politiker zugeben.

Sie sind oft in der Türkei im Fernsehen. Wie reagieren die türkischen Medien auf Sie?

Ich rede immer geradeheraus, offen und ehrlich, auch in den türkischen Medien. Ich sage dort: Die Beziehungen zu Deutschland müssen eine neue Qualität bekommen. Wo sind unsere Gemeinsamkeiten, was können wir tun?

Sprechen Sie auch Defizite in der Türkei an?

Ja. Es gibt viele Defizite, in der Justiz, im Rechtswesen, im Staatsverständnis. Die Türken müssen auch lernen: Sie sind nicht einfach Untertanen eines Staates, sondern eigentlich muss der Staat für die Individuen da sein. Unterordnungen unter den Staat, wie sie vom osmanischen Staat übernommen wurden, passen nicht in eine Demokratie. Man muss kritischer sein, auch selbstkritischer. Denn problematisch an den Türken ist: Sie sind sehr empfindlich, wenn man den Staat und das System kritisiert. Es gibt aber eine Menge zu kritisieren, und das sage ich auch. Erstaunlicherweise haben sie mir das bislang nicht übel genommen, im Gegenteil – diese Art von offener Auseinandersetzung mit dem bestehenden System kommt dort gut an. Die Türkei befindet sich auf einem guten Weg, in einem Umbruchprozess zum Guten.