In diamantener Verdichtung

Fast jeden Abend gibt er ein Konzert irgendwo auf der Welt. Von fast jedem gibt es einen Mitschnitt. Einer ist fast perfekt: Santa Cruz, 16. März 2000

Mit fast 60 Jahren wiedergeboren. Jeden Abend aufs Neue. Ein Leben auf dem Prüfstand.

von MAX DAX

Sie verehren ihn wie einen Gott. Die Fans. Sie haben sich im Internet miteinander verabredet, unter Garantie hat einer von ihnen einen Minidisc-Rekorder dabei, um das Konzert aufzunehmen. Sie diskutieren über Songtexte, Songauswahl, kommende Konzerte, gewesene Konzerte und ihre Lieblingssongs, während die Halle von seltsam plätschernder Cocktail-Jazz-Musik beschallt wird. Wird er guter Laune sein? Wird er Songs spielen, die er auf anderen Konzerten nicht gespielt hat? Wird er Mundharmonika spielen? Wird er ein paar Worte mit seinem Publikum wechseln?

Überpünktlich geht das Licht aus, und eine Stimme aus dem Off spricht: „Good evening Ladies and Gentlemen, please welcome Columbia recording artist Bob Dylan“. Tosender Applaus. Endlich Licht. Ein geraffter Samtvorhang ist die einzige Bühnendekoration hinter den Musikern, es gibt keine weitere Begrüßung, andauernder Applaus, dann beginnt das Konzert. Bob Dylan trägt einen schwarzen Totengräber-Anzug, die schwarze Hose wird von einem weißen Streifen geziert, dazu schwarze Boots, eine String Tie und ein dunkles Hemd. Dylan sieht aus, als wäre er einem Western entstiegen. Es heißt, Gianni Versace hätte dieses außergewöhnliche Outfit seinerzeit persönlich geschneidert. Eines wird auch jenen klar, die keine beinharten Fans sind: So cool, so Pokerface, so respekteinflößend sind nur wenige außer Dylan. Vielleicht noch Marlon Brando, vielleicht noch Frank Sinatra, als er noch lebte.

Seit April 1999 beginnt Bob Dylan seine Konzerte mit einem akustischen Set. Bis zu 140 Konzerte im Jahr, nicht selten zwei Shows an einem Abend, verteilt über alle Erdteile, die meisten in den USA. Dieses aus einem halben Dutzend Songs bestehende Eröffnungsset ist seit einigen Jahren so angelegt, dass die Begleitband Dylans mit akustischen Instrumenten spielt, bevor sich ein elektrisch verstärktes Rockset anschließt. Diese inszenatorische Klammer funktioniert. Die Musiker haben sauteure Instrumente. Einzelanfertigungen, es sind ihre Werkzeuge, sie arbeiten fast jeden Tag mit ihnen. Der Klang ihres Zusammenspiels ist entsprechend: Warm, ausdifferenziert und tief im akustischen Part; tight, treibend und rockend im darauffolgenden Teil.

Heute ist der 16. März 2000, die Stadt ist Santa Cruz, Kalifornien, schon gestern hat Dylan am selben Ort, dem Civic Auditorium, ein Konzert gegeben. Gestern hat er 13 Songs von 16 gespielt, die er heute Abend nicht spielen wird, heute wird er zwölf Songs in einem Set von 15 spielen, die er gestern nicht gespielt hat. Kein Konzert gleicht dem anderen, nur den Song „Tangled Up In Blue“ mit den selbstbekenntnishaften Zeilen „The only thing I knew how to do / Was to keep on keepin’ on / Like a bird that flew“, den spielt Dylan seit über einem Jahrzehnt Abend für Abend, so auch heute Nacht.

Von der zweiten Show in Santa Cruz existiert ein Konzertmitschnitt von exzellenter Qualität. Jedes Zupfen der akustischen Gitarren und der Steel Guitar, des Kontrabasses, jeder Schlag des mit dem Besen gestrichenen Schlagzeugs, vor allem aber jede Silbe von Dylans Gesang sind auf diesem Mitschnitt mit einer an Studioqualität heranreichenden Brillanz eingefangen worden. Von nahezu jedem Konzert, das Bob Dylan in seinem Leben gegeben hat, gibt es einen Mitschnitt, wenngleich nur selten einen technisch so hochwertigen. Mitschnitte wie der aus Santa Cruz dokumentieren einen in der Rockmusik einzigartigen Lebensentwurf: Denn die Konzerte, die Dylan fast allabendlich gibt, unterscheiden sich nicht nur durch unterschiedliche Songauswahl, sondern auch dadurch, dass der Sänger in den letzten 13 Jahren quasi sein gesamtes Oeuvre einer Revision unterzogen hat. Kein Akkord blieb auf dem anderen, kein Arrangement wurde im Vergleich zu den Originalsongs auf den Originalalben beibehalten, keine Zeile seiner Texte hat Dylan nicht schon so anders gesungen, dass nicht ein neuer Sinn interpretierbar geworden wäre. Dieses Prinzip des praktizierten Work In Progress ähnelt der Arbeitsweise von Miles Davis, der das eigene Songmaterial mitunter radikal neu interpretierte, um nicht in die Falle des Selbstplagiats zu tappen – eine Problematik, mit der jeder Musiker früher oder später in seiner Karriere konfrontiert wird, aber nur wenige haben so konsequent auf Reinvention als Überlebensprinzip gesetzt wie Dylan oder Davis.

Santa Cruz, zweiter Abend, unterscheidet sich von anderen Dylan-Shows der vergangenen Jahre insofern, als dass sie diese Neuerfindung des eigenen Selbst in einer diamantenen Verdichtung und Konzentration dokumentiert. Mehr noch, Santa Cruz macht Dylans Kunstbegriff stellvertretend für all die ungezählten Konzerte vorher und später ein für alle Mal fassbar: Der Mann, der da auf der Bühne steht, redet wenig, aber er schüttet sein Herz aus, indem er sich fallen lässt in die Musik. Das ist das Wesen seines selbst gewählten Berufes, dem des fahrenden Sängers, der sich offenbar vorgenommen hat, in seinem Leben in jeder Stadt dieser Welt zumindest einmal aufgetreten zu sein, immer vorausgesetzt, die Gage stimmt. Ein Konzert ist eben nicht mehr die zuvor einstudierte Wiedergabe eines Programms, sondern ein allabendliches Experiment in Sachen Kontaktaufnahme und Selbstvergewisserung.

In Santa Cruz spielt Dylan zu Beginn einen Folksong von Ralph Stanley and Larry Sparks namens „I Am The Man, Thomas“, und er wird noch drei weitere Songs spielen, die nicht er selbst geschrieben hat: „Big River“ von Johnny Cash, „Rock Of Ages“ von Augustus Montague Toplady sowie „Not Fade Away“ von Buddy Holly. Seine eigenen Songs, darunter äußerst selten performte Stücke wie „Song To Woody“ oder „Highlands“, aber auch Gassenhauer wie „Highway 61 Revisited“ oder „Stuck Inside The Mobile With The Memphis Blues Again“, spielt Dylan dabei ebenfalls, als wären sie Bestandteil eines Fundus’ amerikanischer Erinnerungen (und nicht seiner eigenen) – mit Bob Dylan in der Rolle des Sängers, der aus diesem kollektiven Balladenschatz schöpft, um durch die Songauswahl mit seinem Publikum zu kommunizieren.

Wenn Dylan etwa in seinem Song „You’re A Big Girl Now“ die Zeilen „Bird on the horizon, sittin’ on a fence / He’s singin’ his song for me at his own expense / And I’m just like that bird / Singin’ just for you“ singt, dann ist das eben nicht abgeschmackt und zynisch, sondern es darf davon ausgegangen werden, dass die Wahl dieses selten gespielten Songs Auskunft über eine spezifische Stimmung Dylans gibt. Dass an diesem Abend mit Zartheit des Umstandes gedacht wird, dass ein Sänger sein Publikum braucht und in dieser Rolle aufgeht. Von der Schönheit des Songs und dessen Interpretation durch die blind eingespielte Band, bestehend aus Tony Garnier (Bass), Charlie Sexton, Larry Campbell (Gitarre) und David Kemper (Schlagzeug), ganz zu schweigen: Der Wunsch nach Transzendenz, den die Musiker (Dylan spielt selbst auf eine geradezu kubistische Weise Lead-Gitarre) in ihrem Zusammenspiel zum Ausdruck bringen, manifestiert sich in atemraubenden „Extended“ Versions von Dylans Songs, zu überprüfen am dritten Song des Abends, „It’s Alright Ma (I’m Only Bleeding)“.

Mit gleich drei Gitarren winden sich die Musiker immer tiefer in die Repetitionen dieses bedrohlichen, offen arrangierten Talking Blues’. Dylan singt: „He not busy being born / Is busy dying“. Die Zeilen hat er schon vor über 36 Jahren gesungen, als der Song zum ersten Mal auf dem Album „Bringing It All Back Home“ veröffentlicht wurde. Fast vier Jahrzehnte später, in Santa Cruz, haben diese Zeilen nichts von ihrer Wucht und Wahrheit verloren: Er erfindet sie und damit sich neu, und die Art, wie Dylan diese Zeilen singt, beweist, dass sich der Sänger dessen vollends bewusst ist. Mit fast 60 Jahren wiedergeboren. Jeden Abend aufs Neue. Ein Leben auf dem Prüfstand. Das noch längst nicht abgeschlossene Selbstporträt eines Künstlers, der sich nicht zufrieden geben will mit einfachen Lösungen. Ein Role Model. Ein letzter Repräsentant einer aussterbenden Berufsgattung. Ein Mann, der uns etwas zu sagen hat. Unbeirrbar. Eigenbrötlerisch, einzelgängerisch, vorwärts schreitend, immer wieder mit solcher Magie singend wie an jenem denkwürdigen 16. März 2000 in Santa Cruz.

Das Bootleg ist als „Highland 2000“ in den Internet-Foren zu bekommen, zu denen man sich über www.expectingrain.com durchklicken kann.