Aus Badetag mach Hühnermord

Schleef, Remarque und der Rumänenwald: Nach zwei gleichzeitig stattfindenden Regiepremieren sowie zwei Uraufführungen seines Stückes „Vineta (oderwassersucht)“ ist Armin Petras deutscher Meister im Theatervierkampf

Selbst wenn der genaue Wert des 18. Mai 2001 für die deutsche Theatergeschichte erst mit einigem Abstand zu ermitteln sein wird, dürfte der an diesem Abend aufgestellte Geschwindigkeitsrekord in der nicht unbedingt für ihre Beschleunigung berühmten Bühnenlandschaft kaum noch zu überbieten sein. Nachdem sich der Regisseur von Einar Schleefs Text „Die Bande“ gegen 22 Uhr in der zweiten Etappe des Leipziger Schauspielspektakels „www heimat le“ verbeugt hatte, erschien er kaum mehr als zwei Stunden später beim Schlussapplaus für „Die Nacht von Lissabon“ in den Freien Kammerspielen Magdeburg. Ob er außerdem noch als Autor des in beiden Theaternächten parallel uraufgeführten Stückes „Vineta (oderwassersucht)“ seinen verdienten Beifall entgegennahm, war bislang nicht zweifelsfrei zu ermitteln. Doch da sein Pseudonym Fritz Kater inzwischen ohnehin gelüftet ist, hätte Armin Petras für seinen unanfechtbaren Sieg im szenischen Vierkampf auch diesen Lorbeer noch verdient.

Dass der Marathonmann mit den unstrittigen Sprintqualitäten, nicht nur für sportive, sondern auch für künstlerische Höhepunkte sorgte, war die eigentliche Überraschung. Ausgerechnet Petras, den das Großfeuilleton spätestens seit seiner Berufung an das Frankfurter Schauspiel als vaterlands- und geschmacklosen Gesellen verklagt, erwies sich bei seiner Tour de Force durch den Osten nämlich als kompetenter Heimatkundler mit Sinn fürs Sentiment. Da einige Wiederholungen inzwischen auch dem weniger trainierten Beobachter die Gesamtleistung in allen Einzelteilen zugänglich gemacht haben, ergibt sich eine bemerkenswerte Bilanz.

In der Spielstätte „Haus Leipzig“, einem maroden Monument des DDR-Kulturlebens, kämpfen selbst kraftvolle Lufterfrischer vergeblich gegen penetranten Uringeruch. Quer zur tristen Innenarchitektur des Gebäudes hat Ausstatter Bernd Schneider nun eine historische Raumsituation rekonstruiert: Zwischen runzligen Futterrüben und brüchigen Braunkohlebriketts bilden Kinder-, Schlaf- und Wohnzimmer samt Diele das sozialistische Maximalquartier einer Normalfamilie mit zwei Kindern. Hier wird es allerdings von vier Paaren samt Anhang bewohnt. Schon diese räumliche Not schmiedet jene „Bande“, die Schleef in seiner Anfang der 90er-Jahre erschienenen Erzählung zu einer verheerenden Odyssee auf den Bitterfelder Weg schickte.

Dabei fängt – wie in jedem anständigen Road Movie – alles ganz harmlos an: Die typischen Kleinbürger therapieren ihre klassischen Probleme mit der Obrigkeit und dem Unterleib, kämpfen gegen die Fliehkraft des Ehealltags und suchen tapfer ihren Sinn im System.

Gefährlich wird es erst, wenn sie nach der Arbeit auch noch Spaß wollen, der in der lustbefreiten Zone notorisch Mangelware ist. Dann werden Männer zu Monstern und Weiber zu Hyänen, eskalieren kulturbeflissene Ausflüge in das Goethe-Theater Bad Lauchstädt zu alkoholisierten Beutezügen und harmlose Badetage am Baggersee zum Massenmord in der Geflügelmastanlage.

Armin Petras akzeptiert Schleefs Satzstakkato als Vorlage für eine „Pulp Fiction“ im Plaste-und-Elaste-Land, wo die Unmöglichkeit einer Flucht durch die arrogante Nachlässigkeit der Gegner kompensiert wird. Brandstiftend und vergewaltigend legen die Normalverbraucher ihre Spur zwischen Merseburg und Buna, während ihnen der Betrachter eher mit amüsiertem Ekel als mit moralischem Entsetzen folgt.

Eine ganz andere Reise in die Nacht setzt Petras in seinem Remarque-Projekt an den Freien Kammerspiele Magdeburg in Szene. Der Roman „Die Nacht von Lissabon“, der von einer unmöglichen Liebe vor dem zunehmend verdüsterten Hintergrund der nationalsozialistischen Expansion in Europa erzählt, gerät ihm zu einer außerordentlich anrührenden und rhythmisch hoch konzentrierten Miniatur. In einem Krankenzimmer, wo ein hilfloser alter Mann im Rollstuhl verdämmert, verwandeln sich Klinikpersonal und Besucher in die Schatten dieser schrecklich glücklichen Vergangenheit. Als Preis für zwei Pässe ins gelobte Land Amerika muss der Held noch einmal eine fremde – oder doch die eigene? – Geschichte hören, die mit seiner heimlichen Heimkehr aus dem Exil begann und mit dem Tod seiner geliebten Frau endete.

Hier bewährt sich der Regisseur, der seinen Anteil an der Arbeit demonstrativ untertreibt, als diskreter und virtuoser Erzähler. Wenn er dem alten Mann einige Papierschiffchen in die Hand gibt und einige Blumen als einzigen Schmuck in den kahlen Raum stellt, ist dessen Vereinzelung und seine letzte Zuflucht in der Erinnerung fast greifbar. Und als er schließlich die von Remarque vorgeschriebene Konsequenz der Geschichte noch um eine überraschende Wendung anreichert, erscheinen Trauer und Glück als verwechselbare Seiten einer kaum noch in Umlauf befindlichen Münze.

Mit seinem Stück „Vineta“, das für die Ring-Uraufführung von Markus Dietz (Leipzig) und Wolf Bunge (Magdeburg) in Szene gesetzt wurde, liefert Petras unter dem Namen seines dramatischen Alter Ego Fritz Kater schließlich eine komplexe Mentalitätsrecherche vom östlichen Rand Deutschlands: Der aus reflektierender Erzählung und unmittelbarem Dialog gemischte Text verortet Gestrandete und verzweifelt gegen den Strom der Lethargie Schwimmende am Ufer der Oder – also dort, wo nachts alle Glatzen grau sind und aus dem „Rumänenwald“ verzweifelte Flüchtlinge nach Deutschland übersetzen.

Hier ist die Hoffnung auf eine Boxerkarriere für einige junge Männer der letzte Strohhalm, während sich die Generation der Aussortierten und Abgeschriebenen auf Umschulungslehrgängen durchschlägt. Petras überzeichnet, karikiert und kalauert gegen die alltägliche Verzweiflung, bleibt aber stets ein verständiger Anwalt seiner Figuren. Und dass seine Vorlage in beiden Uraufführungen sehr unterschiedliche Tempi und Töne aushält, zeigt seine Brauchbarkeit für das Repertoire. Ein kleines Wunder – bei der dramatischen Dauerbelastung!

FRANK WENGEL