Die neue Sklaverei

Seit 75 Jahren ist Sklaverei weltweit geächtet. Doch auch heute noch existiert diese extremste Form der Zwangsarbeit. Mit einem Unterschied: Ein Sklave wird nicht mehr wie Eigentum behandelt, sondern schlechter. Er ist ein Wegwerfmensch, wird ausgebeutet und „entsorgt“, wenn er nicht mehr genug Gewinn abwirft. Ein Bericht über die erste große Studie zum Thema

von ULRIKE WINKELMANN

STRASSBURG afp ■ Zehntausende von Frauen, die als Hausangestellte arbeiten, werden in Europa wie Sklaven gehalten, so ein Bericht des Europarates. Vor allem bei Diplomaten, deren Status ihnen Straffreiheit garantiere, sei diese „moderne Form der Sklavenhalterei“ weit verbreitet. (taz, 9. Januar 2001)

SYDNEY rtr ■ Zehntausende von Seeleuten werden nach einer Untersuchung auf internationalen Frachtern wie Sklaven gehalten. Sie litten unter mangelhaften Sicherheitsbedingungen, Hunger, Ausbeutung, Prügel und Vergewaltigungen, sagte Peter Morris, Chef des unabhängigen Branchenbeobachters International Commission of Shipping. (taz, 7. März 2001)

Was in eine Kurzmeldung so hineinpasst. Und wie unangemessen die Begriffe „Sklaven“ und „Sklaverei“ aus dem dürren Agenturtext hervorragen. Sklaverei ist doch abgeschafft. Denkt man.

Die deutsche Öffentlichkeit wird sich an den Umgang mit der Vokabel „Sklaverei“ gewöhnen müssen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dass Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Ethnologen, Journalisten und vielleicht auch die eine oder andere Gesandtschaft eines G7-Staates in den Holzkohlenbrennereien Brasiliens und den Ziegeleien Pakistans auftauchen, um den Lebensbedingungen der Menschen dort nachzuspüren. Sie werden die Organisation von Arbeit und Lebenserhaltung nicht anders als mit dem harten Wort „Sklaverei“ bezeichnen können, wenn sie ihre Berichte daheim publizieren. Die Entwicklungs- (hilfe)minister werden ihre Kollegen im Kabinett am Ärmel ziehen und fordern, beim nächsten Staatsempfang das Thema, wenn auch zunächst unter vier Augen, anzusprechen. Verbraucherinitiativen werden zum Boykott von Waren aufrufen, an deren Herstellung Sklaven beteiligt waren.

Eine andere Vorstellung, einen anderen Schluss lässt das Buch „Die neue Sklaverei“ von Kevin Bales nicht zu. 1999 ist es bereits unter dem Titel „Disposable People. New Slavery in the Global Economy“ auf Englisch erschienen, jetzt hat sich der Münchner Kunstmann Verlag seiner angenommen.

Bales, American born Soziologe an der University of Surrey, England, ist jahrelang durch die Welt gereist, hat zum Teil verdeckt recherchiert und eine unglaubliche Menge an Daten zusammengetragen, um Folgendes zu belegen: Es gibt weltweit etwa 27 Millionen Sklaven. Das sind mehr, als zwischen 1650 und 1850 über den Atlantik verschifft wurden.

Und es werden immer mehr. Regierungen schützen und fördern Sklaverei; Bruttosozialprodukte von Dritte-Welt- und Schwellenländern basieren auf Sklaverei; Sklaverei ist ein Rädchen im Getriebe der globalisierten Wirtschaft. Der Stahl des Rasenmähers Ihrer Eltern wurde in einem Feuer aus Holzkohle gehärtet, die von Sklaven produziert wurde. Die Frau, die Ihren Seidenschal gewebt hat, ernährt sich von Reis, der von Sklaven geerntet wurde.

Um 1850 wurde ein Feldarbeitssklave in den US-amerikanischen Südstaaten für etwa 1.000 bis 1.800 Dollar verkauft, das entspricht fünfzigtausend bis hunderttausend Dollar heute. Solche Sklaven erbrachten ihrem Eigentümer im Schnitt nur fünf Prozent Gewinn pro Jahr; durch die Arbeit eines Tausenddollarsklaven konnte sein Halter also fünfzig Dollar im Jahr verdienen. Sklaven galten somit als eine beträchtliche Investition und wurden in der Regel auch als solche behandelt. Die neue Sklaverei sieht anders aus: Es gibt Nachschub im Überfluss. Die verarmte Landbevölkerung weltweit stellt einen gigantischen Pool mobiler, leicht verschickbarer Arbeitskraft dar. Die Menschen sind nichts wert, allein schon deshalb lohnt es nicht, sie als Eigentum zu behandeln. Es reicht, sie festzuhalten. „Meine eigene Definition von ‚Sklave‘ wäre: eine Person, die mit Gewalt oder durch Androhung von Gewalt zum Zwecke wirtschaftlicher Ausbeutung festgehalten wird“, schreibt Bales.

Damit ist der zentrale Unterschied zwischen der Sklaverei alten Stils, wie sie offiziell weltweit verboten ist, und der Sklaverei neuen Stils, wie Bales sie beschreibt, benannt: Unter Sklaverei verstand man früher, dass eine Person über eine andere als ihr Eigentum verfügen konnte. Dieses Eigentum war rechtlich und staatlich abgesichert. Spätestens seit dem „Übereinkommen betreffend die Sklaverei vom 25. September 1926“ des Völkerbundes ist diese Form der Sklaverei weltweit geächtet.

Das ist gut und schön – aber was, wenn es zwar das legale Eigentum an einem Menschen nicht mehr gibt, gleichwohl aber alle Formen der Behandlung und Ausnutzung von Menschen, wie sie aus einer dem Eigentumsrecht gleichkommenden allumfassenden Verfügungsgewalt entstehen? Die neue Sklaverei zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen nicht mehr wie Hab und Gut behandelt werden, sondern schlechter: Sie sind Wegwerfmenschen, disposable people eben, sie werden wirtschaftlich genutzt und „entsorgt“, wenn sie nicht mehr ausreichend Gewinn abwerfen.

Eine Reihe von Fallstudien führt Bales an, um zu zeigen, wie moderne Sklaverei funktioniert. Sein erstes Beispiel: die Sexindustrie in Thailand. Bales geht es nicht um die Prostituierten, die beim Stichwort „Sextourismus“ beziehungsweise beim Szenario „Fetter Weißer kauft sich kleine, gefügige Asiatin“ gemeint sind. Diese genießen gerade dadurch, dass sie mit Ausländern Umgang haben, sogar ein gewisses Maß an Freiheit. Die meisten der Sexarbeiterinnen in Thailand prostituieren sich insofern freiwillig, als sie auch auf andere Weise ihren Lebensunterhalt verdienen könnten. Anders die nach Bales’ Erhebungen etwa 35.000 Mädchen, die aus dem zurückgebliebenen Norden des Landes in die Provinzstädte verkauft und thailändischen Männern der Arbeiterklasse in Bordellen angeboten werden.

Die Mädchen werden als junge Teenager von ihren Eltern, die vielleicht völlig verarmt sind, vielleicht sich aber auch nur endlich ein Fernsehgerät kaufen wollen, für tausend oder zweitausend Dollar an Vermittler verkauft. Die vertragliche Abmachung zwischen Eltern und Vermittler sieht vor, dass die Mädchen diese Summe abarbeiten müssen. Wenn sie für etwa den doppelten Preis an die Bordelle verkauft werden, haben die Mädchen Schulden, die sie auch mit noch so harter Sexarbeit nicht tilgen könnten – und es werden durch die Belastung mit Kosten für Miete, Essen, Medikamente immer mehr statt weniger. Versuchen sie zu fliehen, werden sie regelmäßig wieder eingefangen und hart bestraft. Die Polizei unterstützt die Bordellbesitzer dabei. Die Profite, die mit den Mädchen in Schuldknechtschaft gemacht werden, sind enorm: Die Geschäftsleute, die in der Regel ihre Bordelle nur als einen von mehreren Geschäftszweigen betreiben, haben binnen zwei oder drei Monaten aus einem Mädchen ihre Investition wieder herausgeholt.

Noch ein Beispiel: Die Holzkohlelager, so genannte batterias, in Brasiliens Westen. Hier wird der Urwald gerodet, das Holz in kleinen Meilern zu Holzkohle verbrannt, die Kohle zur Stahlindustrie in Richtung Osten verfrachtet. Die Männer, die mitten im Urwald in den Köhlercamps arbeiten, sind von so genannten gatos – das portugiesische Wort für „Kater“ – aus den städtischen Slums hergelockt worden. Sind sie erst im Camp, wird ihnen vorgerechnet, dass der Transport über mehr als tausend Kilometer und ihr Unterhalt bereits so teuer waren, dass sie zunächst ihre Schulden abarbeiten müssen, bevor sie eigenes Geld bekommen.

Tatsächlich sehen die Männer, die unter entsetzlichen Bedingungen Holz in den Öfen stapeln, aus unvorstellbarer Hitze die Kohle bergen und sich dabei regelmäßig verbrennen, selten irgendeinen Lohn. Die Behandlung der Sklaven durch die gatos ist von vollkommener Willkür geprägt. Die gatos ihrerseits werden von den Eigentümern der batterias unter Druck gesetzt. Fluchtversuche werden vereitelt. Todesfälle werden behördlich nicht registriert. Es ist kaum zu sagen, wie viele tausend Männer in den batterias als Sklaven arbeiten.

Das Land, in dem Schuldknechtschaft in Form von Sklaverei am weitesten verbreitet ist, ist jedoch Indien. Hier haben große Teile der Landbevölkerung schon immer auf einem kleinen Stück Boden, von einem Landeigentümer zur Nutzung zur Verfügung gestellt, gelebt. Dafür müssen sie Schulden abarbeiten: auf seinen Teeplantagen, in seinen Ziegeleien, Bergwerken und Steinbrüchen, als seine Dienstboten, als Hausarbeiter.

Dieses Koliya-System – koliya heißt „Land“ – hat bis heute überdauert, Millionen von Menschen leben in Indien noch in dieser Form der Leibeigenschaft. Bezahlt wird ihre Arbeit in Weizen oder Reis, niemals in Geld. Wenn Medikamente oder Waren anderer Art gekauft werden müssen, muss eine Familie vom Landbesitzer Geld leihen und vervielfacht ihre Schulden. Die Familien dürfen nicht für andere arbeiten oder wegziehen. Der Status der Leibeigenschaft ist meist erblich, ebenso wie die Schulden und die Schuldzinsen.

Die Mädchen in Thailand, die Köhler in Brasilien, die geknechteten Familien in Indien bekommen für ihre Arbeit kein oder fast kein Geld. Im Gegenteil: Sie arbeiten Schulden ab in einem System, das deren Tilgung nicht vorsieht. Diese Schuldknechtschaft ist die gebräuchlichste Form der Sklaverei. Sie unterscheidet sich grundlegend von dem, was gerne als „Lohnsklaverei“ bezeichnet wird, wenn also für sehr harte Arbeit so wenig Lohn bezahlt wird, dass ein Mensch noch nicht einmal die Möglichkeit hat, sich nach einer besser bezahlten Arbeit umzuschauen. Denn so hart eine Arbeit auch ist – wird sie bezahlt, wird der Tausch „Arbeit gegen Geld“ als ein auf Freiwilligkeit beruhender Handel angesehen.

Es fällt schwer, sich von der Vorstellung dieser grundsätzlichen Freiwilligkeit zu lösen. Erst aus Bales’ detailreicher Schilderung der Verhältnisse in Thailand, in Mauretanien, in Pakistan, Indien und Brasilien erwächst ein Bild der Unterwerfung, die je verschieden ist und doch dadurch überall gleich, dass sie Macht- und Hoffnungslosigkeit bei den Unterworfenen bewirkt.

Auch die Protokolle der Gespräche mit Sklavenhaltern erwecken diesen bizarren Eindruck, dass die je verschiedenen Bedingungen umso fester gefügt sind, je mehr sich die Worte gleichen, die von den Subjekten gewählt werden, um sie zu beschreiben: Ob es die letzten Sklavenhalter alten Stils in Mauretanien sind oder die Herren der Schuldknechte in Indien, die weder von mauretanischem noch anderem Sklavenhaltertum je etwas gehört haben – zur Rechtfertigung der Herrschaftsverhältnisse haben sie alle die gleichen Worte: „Wissen Sie, diese Menschen profitieren in diesem System genauso wie ich“, „sie könnten in Freiheit gar nicht überleben“, „unser Verhältnis ist wie eine Vater-Sohn-Beziehung“, und so weiter. „Es war, als hätte man ihnen eine Pressemappe des Hauptbüros der Sklavenhalter in die Hand gedrückt“, schreibt Bales.

Das Schlimme ist: Die Sklavenhalter haben Recht. Die Menschen, die ihr Leben lang für sie gearbeitet haben, brauchten für ein Leben in Freiheit eine Ausbildung, Startkapital und seelische Betreuung. Das Wirtschaftssubjekt Sklave hat in seinem Leben selten eine eigene Entscheidung gefällt, fast noch nie etwas konsumiert und hat keinerlei Erfahrung mit Institutionen, egal welcher Art. Ein Sklave hat nicht gelernt, in Alternativen zu denken – er lässt sich überhaupt nur ausnutzen, weil er nicht weiß, dass er eine Alternative hätte. Der Sklave ist – darin erfüllt sich das paternalistische, sich selbst legitimierende Gerede seiner Halter – ein Kind.

Bales schildert die Dimensionen von unfreiwilliger Ignoranz und Abhängigkeit der Sklaven, das Ausmaß ihrer Abschottung von kontrollierender und aufklärender Öffentlichkeit so eindrücklich, dass selbst nachrichtentechnisch abgebrühte Gemüter in der Sklaverei mehr als bloß ein weiteres „Thema“ erkennen dürften, das die NGOs professionell, wie sie nun einmal sind, aufbereiten werden. Der Stoff, den Bales zusammengetragen hat, reicht, um den Informationskreislauf von NGOs, Lobbygruppen und Menschenrechtspolitikern zu sprengen.

Dabei hat Bales’ Buch unübersehbare stilistische wie inhaltliche Schwächen: Weder ist die Metaphorik besonders geglückt – die Gleichsetzung von Sklaverei mit einer „Seuche“ etwa stößt nach einer Weile als hygienepolitische Metapher auf –, noch ist sein männlich-bärbeißiger Karl-May-Humor immer angemessen.

Bales’ sarkastischer Trick, die Nutzung von Menschen als Sklaven strikt wirtschaftlich durchzukalkulieren und dergestalt der Furcht des Lesepublikums vor moralischen Ausführungen zuvorzukommen, ist angenehm antiideologisch. Rätselhaft bleibt jedoch, warum er bei seinen kleinen Globalisierungstheorieexkursen als einzigen Kronzeugen lediglich William Greider („Endstation Globalisierung“, 1999) anführt – als gäbe es keine längst etablierte Globalisierungskritik von Pierre Bourdieu über die gesamte Le-monde-diplomatique-Autorenschaft bis zu Viviane Forrester.

Schwerer wiegt noch, dass Bales in seinem Kapitel über das Koliya-System in Indien zwar ankündigt, das Beispiel Indien zeige auf, wie man Sklaverei bekämpfen könne – er aber die konkrete Schilderung schuldig bleibt. Auf diese Weise bleibt die Leserin mit den guten alten „Was tun?“-Fragen zurück. Als da wären: Beamte an den Grenzen auf der ganzen Welt suchen nach geschmuggelten Drogen. Welche Beamten suchen nach geschmuggelten Menschen? Welche Organisation bietet Patenschaften für befreite Sklaven an? Wer macht die Gelder locker für umfassende wissenschaftliche Studien zur Erforschung der Sklaverei und ihrer Folgen?

In den Achtzigerjahren kannte die ganze Welt die Antiapartheidsbewegung in Südafrika. Wer kennt Anti-Slavery International, die älteste Menschenrechtsorganisation der Welt? 1839 in London gegründet, hat sie mit dafür gesorgt, dass die britische Regierung Mitte des 19. Jahrhunderts mit Kriegsflotten vor der afrikanischen Westküste kreuzte, um Sklavenschiffe abzufangen und die Sklaven zu befreien – das erste menschenrechtlich inspirierte außenpolitische Programm der Welt, das einen Wirtschaftszweig gefährlich und unrentabel machte.

Der Handlungsspielraum moderner Regierungen ist, so scheint’s, enger gefasst. „Heute sind Regierungen und Firmen eher internationalen Strafmaßnahmen ausgesetzt, wenn sie eine Michael-Jackson-CD raubkopieren, als wenn sie Sklavenarbeit fördern“, schreibt Bales.

Kevin Bales: „Die neue Sklaverei“. Antje Kunstmann Verlag, München 2001, 381 Seiten, 44 MarkULRIKE WINKELMANN , 29, ist Chefin vom Dienst bei der taz