Berliner Sozialkunde

Warum die Kunst für sich sprechen lassen, wenn es doch Didaktik gibt? Ernst Ludwig Kirchners „Potsdamer Platz“ und der Untergang der Ausstellungskultur. Eine Polemik

Weil alles mit allem zusammenhängt und mit dem Sommer sowieso, kommt, wenn man mit Ernst Ludwig Kirchner anfängt, am Ende Dada raus und „der Untergang Preußens“ ist dabei, das leuchtet ein, gleich inbegriffen. Nein, an den 18 Millionen Mark, die Kirchners Gemälde „Potsdamer Platz“ die Stiftung Preußischer Kulturbesitz vor zwei Jahren gekostet hat, ist Preußen nicht untergegangen. Schließlich haben die Kulturstiftung der Länder, die Kulturstiftung der Deutschen Bank, der Ernst Siemens Kulturfonds, die Bundesregierung und das Land Berlin den Kauf mit finanziert. Das Bild aus dem Jahr 1914 hängt seit elf Jahren als Leihgabe in der Neue Nationalgalerie, wo man aber erst jetzt dazu gekommen ist, der teuren Erwerbung eine Ausstellung zu widmen. Und jetzt ist – aus Anlass der 300 Jahre zurückliegenden Krönung Friedrichs I. – „Preußenjahr“. Pech für Kirchner. So muss er nun aus dieser Koinzidenz mit Preußen mituntergehen.

So ein Untergang braucht übrigens ganz schön Material. Mit ein bisschen Kirchner kommt man da nicht hin. Für einen wirklichen Untergang, da möchte man also ruhig mal richtig in Kunst shoppen gehen. Wenn schon, denn schon. Dann wird die Schau zu einer wenigstens so fetten Touristenattraktion aufgepumpt, wie sie der nahe gelegene Potsdamer Platz selbst ist. Gut 320 Gemälde, Zeichnungen, Lithografien und Skulpturen der klassischen Moderne, ganz zu Schweigen von der Multimediashow und den Fotografien von Heinrich Zille oder Willy Römer zum Potsdamer Platz, dürfen es dafür schon sein. Und nicht nur die Schätze aus den heimischen Museen, sondern auch Leihgaben aus Hamburg, Paris und Oslo. Denn es war ja nicht nur Ernst Ludwig Kirchner von den großstädtischen Bordsteinschwalben fasziniert, auch Degas und Manet und Toulouse-Lautrec und Munch und Dix und Grosz und überhaupt alle haben sie gemalt.

Und trotzdem: Wer versteht schon worum es geht, wenn bei Kirchner eine Reihe von vielleicht zehn schwarzbefrackten Herren hinter einer aufgebrezelten Dame Schlange stehen? Da ist es doch gut, einen Raum einzurichten, der „Kokotten und Freiern“ gewidmet ist und jegliche Unklarheit beseitigt. Didaktisch hilft auch ein Raum weiter, der „Der hässliche Eros“ heißt, genau so wie der Bildband, der draußen im Museumsshop gerade verramscht wird. Doch, um fair zu sein: Mit viel Mühe kann man zwischen „Apokalypse und Krieg“, „Revolution“, „Hölle Nachkrieg“, zwischen „Metropolis“ und „Die 20er-Jahre in Berlin“, zwischen Käthe Kollwitz und Curt Hermann die Bruchstücke zusammenfinden, die Kirchners großartiges Gemälde in seinen adäquaten Kontext stellen. Zum Beispiel die Zeichnungen und Skizzen, auf denen man sieht, wie geradezu elektrisiert er auf das Tempo und den Rhythmus der Großstadt reagiert. Und auf die scharfen Bräute, die sich zwischen dem Haus Vaterland und dem Potsdamer Bahnhof herumtreiben. Da findet man die Fotos aus seinem Atelier und die Fotos, die den von Drogenkonsum gezeichneten Künstler in Uniform und Pickelhaube zeigen, was eigentlich zum Thema 1914 reicht. Aber bitte. Warum eine kleine, feine, konzentrierte Kunstausstellung machen, wenn man die Besucher mit einem Berliner Sozialkundeunterricht belästigen kann?

BRIGITTE WERNEBURG