Spuren der Perfektion

„Phantasie, Originalität und ästhetischer Geschmack“: Yva war eine der gefragtesten Fotografinnen der Weimarer Republik. Das Verborgene Museum in Berlin zeigt ihr Werk in einer Retrospektive

von YVES ROSSET

Ein ewiges Sujet, ein wundervolles Bild: „Im Grase“, so der Titel von Yvas Fotografie, wohnt eine Mischung aus Erotik und Muße inne, die auf besondere Weise zwischen den Polen der Natürlichkeit und der künstlichen Pose oszilliert. Dazu trägt jedes Detail bei: Während der ausgestreckte nackte Arm der auf dem Rücken liegenden Frau eine Anmut ausstrahlt, als sei er von Botticelli gemalt, verstärkt das unruhige Licht den Eindruck einer filmischen Aufnahme. Die Augenbraue über dem geschlossenen Auge ist fein retuschiert und die Grenze zwischen dem Haar und dem Boden kunstvoll verwischt. Das Streifenkleid ist leicht über die Beine gerutscht. Fast transparent schimmert das aufgestellte Knie im dunklen Strumpf, während die Perspektive der Linse den Blick auf den Oberschenkel freigibt.

Als Yva dieses Bild 1932 aufnahm, war sie schon eine viel gefragte Fotografin. Als Else Ernestine Neuländer 1900 in Berlin geboren, besaß sie im neuen Westen Berlins ihr eigenes fotografisches Atelier, wo sie zwölf Angestellte – meistens Frauen – beschäftigte. Seit 1930 hatte sie sich zunehmend auf Modefotografie spezialisiert. Als sie 1934, inzwischen mit dem Kaufmann Alfred Simon verheiratet, in die Schlüterstraße 45 umzog, bot ihr die 14-Zimmer-Wohnung mit dem zweigeschossigen Entree, dem Balkon und dem Dachgarten die ideale Kulisse für ihre Bildinszenierungen.

1938 erhielt sie auf Grund ihrer jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten Berufsverbot. Ihre letzten Aufnahmen sind Röntgenbilder, die sie 1941 als Assistentin im Jüdischen Krankenhaus machte, bevor sich ihre Spur mit dem 16. Osttransport nach Majdanek/Sobibor vom 13. Juni 1942 verlor.

Nicht weit von ihrem letzten Atelier liegt in der Schlüterstraße 70 in Berlin das Verborgene Museum, das sich seit fünfzehn Jahren der Aufarbeitung weiblicher Kunstgeschichte, vornehmlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, widmet. Hier ist jetzt die bisher umfangsreichste Retrospektive ihres Werks zu sehen. Oder, besser gesagt, Spuren davon, die die beiden Kuratorinnen und Katalogautorinnen Marion Beckers und Elisabeth Moortgat im Ullstein-Bildarchiv und bei privaten Sammlern ausfindig machen konnten. Wunderbare Spuren allerdings, in Form von Vintage Prints und Originalausgaben der zahlreichen Illustrierten, an die Yva von Anfang an ihre so genannte Gebrauchsfotografie verkaufte. Dass die Ausstellung noch in diesem Jahr nach Aachen und München wandern wird, zeigt übrigens, dass die Arbeit der „Dokumentation der Kunst von Frauen e. V.“ – so der Name des Vereins, der das Museum trägt – immer mehr Aufmerksamkeit seitens einer Museumsöffentlichkeit bekommt, die von Männern dominiert wird.

Als Managerin, wie man heutzutage sagen würde, war Yva in ihrer Branche keine Ausnahme. Von den 430 im Jahr 1930 in Berlin angemeldeten fotografischen Ateliers waren mehr als 30 Prozent von Frauen geführt. Ihr erstes Atelier hatte Yva 1925 eröffnet. Ihre rasante Karriere verdankte sie „Phantasie, Originalität und ästhetischem Geschmack“, die ihr das international angesehene Londoner Periodikum Commercial Art schon 1928 bescheinigt hatte. Gleichzeitig verdankte sie ihre Karriere aber auch der Expansion des Zeitschriftenmarktes seit Mitte der Zwanzigerjahre. Die unterhaltenden und auflagenstarken Illustrierten und Magazine forderten unaufhörlich neues Bildmaterial.

Da es darum ging, sowohl Das Blatt der Hausfrau als auch die Elegante Welt, UHU oder Das Kriminal-Magazin zu beliefern, musste die Produktion schnell, ideenreich und innovativ sein. In dieser Phase fotografischen Suchens und Ausprobierens war die Grenze zwischen einer Fotografie für Werbe- und Pressezwecke und rein fotografischen Experimenten fließend, das lässt sich anhand der ausgestellten Bilder gut belegen.

Ein Beispiel ist das Bild der „Sisters G.“ aus dem Jahr 1926. In der experimentellen Technik der Mehrfachbelichtung realisiert, die Yva glänzend beherrschte, zeigt die „synoptische“ Aufnahme zugleich drei Revuegirls beim Beineschwingen rechts oben, dann entlang der bildbeherrschenden Diagonale drei einzelne Porträts mit üppigen Hüten und Federboas unter jeweils unterschiedlicher Perspektive und schließlich drei einzelne Beine, die in den unteren Bildrand ragen. Während die ästhetische und formelle Nähe zu Moholy-Nagy oder der „multiple exposure technique“ von Francis Bruguière nicht zu übersehen ist, diente das Bild, das im Magazin erschien, auch als Promotionmittel. Die Sisters G. machten schließlich eine internationale Karriere, die sie bis nach New York brachte.

Die Ausstellung liefert einen aufschlussreichen und sehenswerten Überblick über die ganz unterschiedlichen Bereiche, die Yva mit einer anscheinend unerschöpflichen Energie bediente. Neben den Akt-, Genre-, Porträt- und Modefotografien von ergreifender Qualität und Präzision werden auch einige Fotoserien präsentiert, die Yva in Zusammenarbeit mit den Zeitschriftenredakteuren für die damals sehr beliebten Bildgeschichten produzierte. Die Plots waren einfach: Sie zeigten die Irrwege der Liebe oder die Karriereträume junger Mädchen, die schließlich doch nur im Hafen einer bürgerlichen Ehe mündeten, boten aber zugleich Gelegenheit, ironisch über „das Scheindasein vor der Kamera“ – so der Titel einer Story – zu reflektieren.

Obwohl für die Massen produziert, zeugt fast jedes Bild – vor allem die Porträts, aber auch die kühlste und strengste Modeaufnahme oder die Inszenierung für eine Gesichtscreme – von einer großen Intimität, von einer Nähe zwischen der abgebildeten Welt und der Fotografin.

Eine Nähe, in der – wie in „Im Grase“ – auch viel Liebe zu spüren ist. Daher lässt einen Yvas Biografie auch keinen Augenblick in Ruhe. Zu gespenstisch erscheint die Gelassenheit mancher ihrer Arbeiten, zu unfassbar ist die scheinbare Perfektion und das stille Glück einer Gesellschaft, die diese Bilder konsumierte, bevor sie barbarisch und mörderisch wurde.

Ausstellung bis zum 22. Juli imVerborgenen Museum, Berlin, Schlüterstr. 70. Der Katalog kostet 46 DM