Ein Geschenk der Gestapo

von HANS JOACHIM LANG

Eine ungewöhnliche Fracht erreicht heute auf dem Schiffsweg Los Angeles: 900 wissenschaftliche Bücher und Zeitschriftenbände, der Großteil der fachärztlichen Privatbibliothek des jüdischen Emigranten Dr. Cäsar Hirsch aus Stuttgart. Absender der auf drei Paletten gepackten Sendung ist die Tübinger Universitätsbibliothek. Nach 63 Jahren gibt sie das Gestapo-Geschenk an die in den USA lebenden Erben des Eigentümers zurück. Diese hatten von dem Verbleib der Sammlung bis vor kurzem nicht die geringste Ahnung.

In Tübingen freilich war die Herkunft dieser Bücher nicht unbekannt. Dennoch reagierte Berndt von Egidy, Direktor der Universitätsbibliothek, überrascht, als der Autor dieses Textes das Ergebnis seiner Recherchen bekannt machte. Er hätte sich nicht vorstellen können, dass in der Universität noch beschlagnahmte Bestände lagern: Bücher aus dem Privatbesitz von Juden, von politischen oder religiösen Vereinigungen oder die druckfrisch in Verlagen konfisziert wurden. „Das war allgemeiner Kenntnisstand im Haus, dass hier nichts dergleichen vorhanden ist“, sagte er.

Wenn nicht er, so hätten es andere Beschäftigte des Hauses besser wissen können. In einer 1981 von der Universität herausgegebenen Monografie über Georg Leyh, von 1921 bis 1947 Vorgänger Egidys, wird lapidar mitgeteilt: „Ferner ist der Universitätsbibliothek Tübingen im Jahre 1938 von der Gestapo Stuttgart die beschlagnahmte Bibliothek des jüdischen Emigranten Dr. med. Cäsar Hirsch zur vorläufigen Aufbewahrung überwiesen worden. Diese Privatbibliothek, die wertvolle Zeitschriften zur Ohrenheilkunde enthält, wurde der Universitätsbibliothek 1940 für 1.000 RM überlassen.“ Überwiesen? Überlassen?

Eine auf die gesamte Bundesrepublik bezogene systematische Untersuchung zu diesem Thema liegt bis jetzt nicht vor. Wie jede andere wissenschaftliche Bibliothek in der Nazizeit war auch die Tübinger Universitätsbibliothek befugt, verbotene Literatur zu sammeln.

Die Eberhard-Karls-Universität nutzte diese Erlaubnis umfassend, was selbstverständlich nur in enger Zusammenarbeit mit der Gestapo möglich war. Anhand von Akten lässt sich diese Kooperation belegen. So bot die Stuttgarter Geheimpolizei am 31. Oktober 1934 an, „den Bedürfnissen der Universitätsbibliothek auch durch Überlassung weiterer etwa hier beschlagnahmter Druckschriften zu dienen“, und regte an, für die Klärung der Einzelheiten ein Gespräch zu terminieren.

Wenig später sprach Direktor Leyh dort vor, und fortan konfiszierte die Gestapo im größeren Umkreis von Stuttgart keine wissenschaftlich interessante Literatur, ohne davon „Belegexemplare“ an die Universität auszuhändigen.

Weiterer Lieferant war die Preußische Staatsbibliothek in Berlin, die immer wieder Päckchen mit beschlagnahmter Literatur unbekannter Herkunft schickte, von 1937 bis 1939 rund 180 Bände. Da nur wenige Dubletten darunter waren, sind sie noch fast vollzählig vorhanden, teilweise sogar bei den Rara. Und mit Kriegsbeginn profitierten die Bibliotheken zusätzlich von den Raubzügen in den besetzten Gebieten.

„Für die Überweisung der wertvollen Bibliothek verbindlichen Dank“, hatte Bibliotheks-Direktor Leyh am 22. Juni 1938 den Empfang der medizinischen Fachbücher quittiert. Was mit ihnen geschehen sollte, war zunächst noch unklar. Dies änderte sich erst im Mai 1940, als das Finanzamt Berlin-Moabit den Fall fiskalisch abschließen wollte – übrigens im selben Monat, in dem im fernen Seattle ein gewisser Cäsar Hirsch heimwehkrank und nahezu mittellos sein Leben durch Selbstmord beendete.

Profiteure der Nazis

Unter den Profiteuren des gedruckten Raubgutes stand die Tübinger Universität nicht an vorderer Stelle. Dort rangierten andere Einrichtungen: etwa spezielle Sammlungen jüdischer Literatur, auch bombengeschädigte wissenschaftliche Bibliotheken. Ungeheure Büchermassen verschoben Nationalsozialisten insbesondere in der Kriegszeit nach Deutschland. Allein im westeuropäischen Ausland plünderten sie in Bibliotheken und Archiven rund 2,75 Millionen Bände, aus Osteuropa wurden mindestens doppelt so viele verschleppt. Zur Menge der aus privatem Eigentum angeeigneten Bücher, schreibt Veronica Albrink in einer jetzt abgeschlossenen Marburger Untersuchung, „liegen nicht einmal grobe Schätzungen vor“.

Der weitaus größere Teil konnte bald nach der Befreiung an die Eigentümer zurückgegeben werden. Aber nach wie vor wird man von vielen zigtausend erbeuteten und beschlagnahmten Büchern ausgehen müssen, die noch in den Magazinen deutscher Bibliotheken stehen. Ihre Provenienz bleibt weithin unbeachtet, weil man den betreffenden Exemplaren nur selten ihre Geschichte ansiehen kann. Das macht die Suche so gut wie aussichtslos, behaupten viele Bibliotheksleitungen. Der Tübinger von Egidy: „Bei einem Bestand von über drei Millionen Bänden geht das über unsere Kapazitäten hinaus, das kann man nicht so nebenbei bewältigen.“

Was nicht beachtet wird, gerät nicht in Verdacht, widerrechtlich angeeignet zu sein. Laut einem vor zwei Monaten von Staatsminister Julian Nida-Rümelin vorgestellten Ratgeber werden eigenaktive Recherchen der Bibliotheken dann für angezeigt gehalten, wenn Verdacht auf unrechtmäßigen Erwerb besteht. Darin folgt er einem Beschluss des Deutschen Bibliotheksverbandes (DBV) vom September 1999.

Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft kritischer Bibliothekare (Akribie) halten diese Einschränkung für falsch. Sie gehen davon aus, dass „der Tatbestand des geringsten Verdachtes bereits dann erfüllt“ sei, „wenn die betreffende Institution zwischen 1933 und 1945 Buchzugänge zu verzeichnen hat“. Konzentriere man sich lediglich auf Verdachtsmomente, schließe dies die systematische Überprüfung der Bestände aus.

In Nida-Rümelins Ratgeber sind praktische Arbeitsschritte aufgelistet, wie eine im Dezember 1999 verabschiedete „Gemeinsame Erklärung“ umgesetzt werden kann. Darin hatten sich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände darauf verständigt, weiter in ihren öffentlichen Einrichtungen nach Kulturgütern zu suchen, die „NS-verfolgungsbedingt“ entzogen wurden. Diese sollen nach individueller Prüfung den legitimen früheren Eigentümern oder deren Erben zurückgegeben werden.

Was tun die Bibliotheken?

Seit der öffentlichen Präsentation der Handreichungen ist es in den Bibliotheken still um das Thema geworden. Unmittelbare Reaktionen hat man keine vernommen, weder bei der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg noch im Berliner Bundesministerium des Beauftragten für Kultur und Medien, Julian Nida-Rümelin.

Auch in der Berliner Geschäftsstelle des DBV vernimmt man über Beteuerungen des guten Willens hinaus wenig Substanzielles. Rückmeldungen habe sie noch keine, sagt Geschäftsstellenleiterin Elke Dämpfert. Sie sagt, was viele sagen: Ohne zusätzliche Mittel lasse sich keine systematische Suche verwirklichen. Hier wie andernorts wird auch darauf verwiesen, dass die meisten Bücher, im Verhältnis zur Bildenden Kunst, nicht sehr kostbar seien.

Wie es auch anders geht, demonstriert die Universitätsbibliothek Marburg. Dort hat man laut Auskunft von Bibliotheksdirektor Dirk Barth die Buchzugänge aus der Nazizeit „aus eigenem Antrieb“ überprüft. Dazu verpflichtete man für vier Monate eine wissenschaftliche Angestellte und kooperiert mit einer freien Historikerin. Sie konnten eine größere Zahl an beschlagnahmten Büchern herausfinden, allerdings nur ein halbes Dutzend Exemplare dem früheren Eigentümer zuordnen. Aber man will es dabei nicht bewenden lassen.

Derweil in Tübingen die eine Tonne schwere Fracht in aller Stille einer Spedition übergeben wurde, wollen die Marburger mit ihrer Geschichte aktiv umgehen. Man wird, gedacht als symbolische Geste, die Bücher in einer offiziellen Veranstaltung den Erben übergeben. Zugleich sollen zwei Publikationen und eine Ausstellung die Geschichte der örtlichen Universitätsbibliothek dokumentieren. Ohnehin soll die Recherche in den Beständen fortgesetzt werden. Bibliotheksdirektor Barth sagt: „Jedes zurückgegebene Buch lohnt den hohen Einsatz und die große Mühe.“