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: Das Literaturfestivaltagebuch (4): Die kleine Zuhörerschaft des Unmöglichen

Tote Autoren lebendig übersetzen

In den Sophiensaelen gerate ich zuerst in den falschen Festsaal, an den Türen historische Zeitungen: Erste 32-bit-Mikroprozessoren an Erich Honecker übergeben, Verpflichtung zum 40. Jahrestag der DDR eingelöst. Auf dem zweiten Flügel dann: 2:1! Scharfe Kritik an geplantem Umtauschsatz/FDGB kündigt Kampfmaßnahmen an.

Im Hochzeitssaal rücken wir unter Hubschraubergeknatter in gemütlicher Runde zusammen, circa 20 Lyrik-Liebhaber. Michael Palmer sieht sich in der Tradition von Emily Dickinson, Melville, Pound und Williams, die nach dem Krieg von der Black Mountain School weitergeführt wurde. Auch verbunden fühlt er sich mit Frankreich, Russland und Deutschland. Auf Nachfrage erwähnt er die Avantgarde der 20er-Jahre, auch Hölderlin, Rilke, aber mit Rilke müsse man vorsichtig sein. Und Kurt Schwitters: obwohl er selber kein solcher Auftrittskünstler sei, finde er ihn wundervoll.

Während Palmer vorgeworfen worden ist, ein unamerikanischer Schreiber zu sein, wurde Lydia Davis beschuldigt, englisch statt amerikanisch zu schreiben. Ihre Mutter war Schriftstellerin, ihr Vater Professor für moderne amerikanische Literatur. Kafka lehrte sie die kurze Form. In jedem Land gebe es diese kleine Leserschaft des Unmöglichen, findet Palmer. Davis fühlt sich eher der Community der toten Autoren zugehörig, weil sie so viel von denen übersetzt. FALKO HENNIG