Klein-Bonnum hinterm Reichstag

Vor zehn Jahren beschloss der Bundestag den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin. Die neue Hauptstadt hat sich durch den Zuzug „der Bonner“ stark verändert. Nirgendwo wird das so deutlich wie in der Friedrich-Wilhelm-Stadt hinter dem Reichstag

Die Verkäuferin: „Balsamico-Essig ist gefragt. Die Bonner kennen das ja.“

von PHILIPP GESSLER

2001 nach Christus. Ganz Berlin ist von den Bonnern besetzt. Ganz Berlin? Nein! Ein von unbeugsamen Berlinern bevölkertes Viertel hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten ... Na ja, das wäre ein schöner Einstieg, aber leider stimmt er nur halb. Genau heute vor zehn Jahren wurde zwar der Umzug der Bundesregierung vom Rhein an die Spree im „Wasserwerk“ beschlossen. Die Bonner Politiker, Ministerialbeamten, Lobbyisten und Journalisten aber fallen in der 3,5-Millionen-Metropole kaum auf. Gleichwohl haben sie die Stadt verändert. Und in kaum einem anderen Viertel (hier nutzt man dazu das unschöne Wort „Kiez“) ist das derzeit so deutlich wie in der „Friedrich-Wilhelm-Stadt“ – angeblich von der „Berliner Schnauze“ bereits Klein-Bonnum genannt.

Wo Klein-Bonnum liegt? Hinter dem Reichstag, könnte man sagen, nicht weit vom Regierungsviertel entfernt. Im Westen gehört das Univiertel um das frühere Elite-Krankenhaus Charité dazu. Im Süden wird es begrenzt durch die Spree und das ARD-Hauptstadtstudio. Die östliche Begrenzung bildet das Mekka der DDR-Nostalgiker, der Friedrichstadtpalast. Und im Norden endet das Viertel mit der Bundeszentrale von Bündnis 90/Die Grünen und dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wo Bertolt Brecht beerdigt wurde. Und mittenmang zwei Bundesministerien, Lobbyverbände sowie Hauptstadtbüros von Zeitungen, TV-Sendern und Agenturen. Ein ganz normales Viertel also, voller Geschichte und Geschichten.

Und wo sind die Bonner? Simone Lehmann kennt „etliche“, wie sie sagt. Sie hat eine Schürze mit Apfel-Muster an und verkauft seit zehn Jahren Lebensmittel in einem Eckladen mitten im Kiez. „Kamin’s Mini Markt“ heißt der Tante-Emma-Laden, die Preise sind zivil, ein Schokoriegel kostet die übliche Mark. Das Viertel habe sich schon verändert, erzählt sie: „Früher war’s hier ein Kiez: Jeder kannte jeden.“ Die alten Leute seien weggezogen, da sie die Miete nicht mehr hätten bezahlen können. Einige Jahre lang mangelte es an Nachbarn, weil so viel umgebaut wurde. „War einsam hier.“ Der Laden laufe jetzt wieder gut. Und auch ein „anderes Einkaufsniveau“ gebe es nun: Es werde etwa nach Balsamico-Essig gefragt – „die Bonner kennen das ja“.

Frau Lehmanns Erfahrungen bestätigt die Studie einer Stadtforschungsgesellschaft. Demnach durchläuft das Wohngebiet derzeit einen „erheblichen Aufwertungsprozess“. Seit 1990 seien mehr als die Hälfte der alten Bewohner weggezogen. Mitte der 90er habe es in Erwartung des Regierungsumzugs in der Friedrich-Wilhelm-Stadt einen hohen spekulativen Leerstand gegeben. So waren 1997 der Untersuchung zufolge 28 Prozent der Wohnungen unbewohnt. Mittlerweile fänden sich für frisch sanierte und gut ausgestattete Wohnungen in zentraler Lage Mieter, die eine Nettokaltmiete von bis zu 21 Mark pro Quadratmeter akzeptierten: Das wären bei einer Wohnung von 100 Quadratmetern Größe mehr als 2.100 Mark pro Monat. Das Viertel ist besonders attraktiv, nicht nur für Bonner, sondern für Zuzügler aus ganz Westdeutschland.

Gesine Bey gehört zu den Glücklichen, die noch keine Wuchermieten zahlen. Die 48-jährige Germanistin hat eine Fünfzimmerwohnung an der Reinhardtstraße. Ihr Haus wurde saniert, das neue Café Mierscheid ist seit wenigen Jahren im Erdgeschoss – benannt nach dem fiktiven Bundestagsabgeordneten, der seit Jahrzehnten durch das deutsche Parlament spukt. Gesine Bey zahlt in ihrer 120-Quadratmeter-Wohnung 6 Mark pro Quadratmeter. Denn sie wohnte schon zu DDR-Zeiten hier, als einen Steinwurf entfernt die Mauer verlief. Am Ende der Straße steht heute auf dem ehemaligen Grenzstreifen die Bundespressekonferenz, deren nachts leuchtende Fassade Berlin-Besuchern am Reichstag sofort auffällt.

Gesine Bey war Sprecherin einer kleinen Bürgerinitiative, die den „Milieuschutz“ für ihr Viertel durchsetzen wollte: Er legt auch Mietobergrenzen fest. Im Dezember vergangenen Jahres fand sich in der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Mitte eine Mehrheit für dieses Regelwerk, die Bürgerinitiative löste sich auf. Weniger Erfolg haben die Bewohner der „Platte Luise“, dem letzten DDR-Plattenbau im Viertel. Er wurde kurz vor dem Mauerfall 1989 fertig und steht seit 1993 zur Disposition. Der Bau stand dem „Band des Bundes“ im Weg: dem Ensemble von Kanzleramt, Abgeordnetenbüros und dem geplanten „Bürgerforum“, das aber nie gebaut wurde. Seit Jahren beharken sich der Bund als Eigentümer des Hauses und die 60 Mieter, die in den 162 Wohnungen des Komplexes noch übrig sind. Derzeit sieht es wieder nach Abriss aus – die Mieter wollen dagegen versuchen, ihre geliebte Platte zu erwerben und selbst zu sanieren.

Die Agrarwissenschaftlerin in der Marienstraße, eine Freundin Gesine Beys, ficht diesen Kampf noch aus. Auch sie will partout nicht aus ihrer 86-Quadratmeter-Wohnung weichen, in die es reinregnet, wenn es allzu sehr schüttet. Von 80 Mietparteien in ihrem Altbaugebäude sind nur noch sie und ein anderer Mieter geblieben – alle anderen sind ausgezogen, da der Vermieter sanieren will. Man hat ihr 80.000 Mark geboten, wenn ihr Freund und sie ihre Siebensachen packen. Aber das wollen sie nicht: „Ick weeß nich“, berlinert sie kurz, „wir wollen nicht weg.“

Draußen vor der Tür stehen Autos aus dem ganzen Bundesgebiet – nur Berliner Kennzeichen sieht man kaum. Der billigste Salat beim Edel-Italiener neben der Bundesgeschäftsstelle der FDP an der Reinhardtstraße kostet 18,50 Mark. Gegenüber steht ein Innenarchitekt in seinem Laden mit Designermöbeln und sagt, er sehe „ziemlich viel Entwicklungspotenzial“ hier: „Das wird richtig gut.“ Und dann muss man leider auch noch zur „Ständigen Vertretung“ des Bonner Promi-Wirts Friedel Drautzburg, ein früher Kämpfer gegen den Regierungsumzug, der dann prompt mit umzog. Dort sitzt tatsächlich CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer. Er trinkt Kölsch. Direkt gegenüber hat ein weiteres ehemals Bonner Restaurant eröffnet: „De kölsche Römer“, heißt es. Asterix, wo bist du?