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Ein Spezialist für orthopädisches Schuhwerk erzählt

von GABRIELE GOETTLE

[„Der Mensch ist eine kleine Welt aus der großen und hat der ganzen großen Welt Eigenschaften in sich: Also hat er auch der Erden und Steine Eigenschaften in sich . . .“ Jakob Böhme, 1623]

Klaus Malinowski, Orthopädie-Schuhmachermeister, leitet die „Jacob Böhme“-Orthopädie-Schuhmacher GmbH i. Berlin. Lehre als Maßschuhmacher 1953 bis1956, Meisterprüfung z. Schuhmachermeister 1960, n. Abschl. d. Meisterschule Qualifikation z. Orthopädie-Schuhmachermeister 1963. 1958 Mitbegründer der „Jacob Böhme“ PGH Berlin, ab 1963 Bereichsleiter. Mitglied d. Fachgruppe Ber. 1. Orthopädie-Schuhtechnik. 1967–1970 Aufenthalt in Kuba, Aufbau d. Werkstatt „Kuba RDA (DDR) u. Ausbildung v. Kubanern z. Orthopädie-Schuhmachern u. Schuhmachermeistern; wg. Mangels a. Lehrbüchern Erstellung e. eigenen bebilderten Fachbuches i. span. Sprache. Ab 1972 Dozent a. d. Meisterschule Dresden, Ausbild. deutscher u. ausl. Lernender z. Orthopädie-Schuhmachermeistern. Ab 1985 Vorsitzender d. Fachgruppe Berlin. 1991 Mitbegr. d. „Jacob Böhme“-Orthopädie-Schuhmacher GmbH. Ab 1993 Landes-Innungsmeister d. Innung f. Orthopädie-Schuhtechnik Berl./Brandenburg; Mitglied i. Bundes-Innungsverband Hannover. Seit 1995 Vorsitzender d. Berufsbildungsausschusses d. Bundes-Innung. 1938 in Berlin geboren. Verheiratet, zwei Kinder.

Das Schuhmacherhandwerk existiert, seit der menschliche Fuß – ungeschützt, ohne Huf, ohne Krallen – den Boden berührt. Der Schuh bietet Schutz und Vorteil bei Jagd, Flucht und Kampf. Er lässt sich aus vielerlei Materialien herstellen und auf die verschiedenste Weise am Fuß befestigen. Durchgesetzt hat sich das Leder und jahrtausendelang die Sandale. Riesige Reiche sind erobert worden in Sandalen, lange bevor der Stiefel marschierte. Der Schuh, so wie wir ihn noch heute kennen, besser gesagt der Herrenschuh hat seinen Ursprung in der Zeit der Französischen Revolution. Er war ein Gegenentwurf zu den höfischen Schuhmoden. Ein bürgerlicher Halbschuh, nicht zu derb, aber schlicht und funktional, in braunem oder schwarzem Leder. Auch die Schuhmacher selbst scheinen nicht nur brave, stumme Produktionsgehilfen gewesen zu sein. Sprichwörter wie „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ sind von der Antike bis zur Industrialisierung im Gebrauch und weisen auf eine starke Neigung zum Gegenteil hin. Die berühmtesten Beispiele in Deutschland sind: Hans Sachs (1494–1576), Schuhmacher, Dichter und Meistersinger aus Nürnberg, und Jakob Böhme, Schuhmacher, schreibender Mystiker und „erster deutscher Philosoph“ (Hegel) aus Görlitz. Der Historiker Eric Hobsbawn hat in seinem Buch „Ungewöhnliche Menschen“ ein Kapitel den Schuhmachern gewidmet, ihrem oft ruhelosen, aggressiven Wesen, ihrer ausgeprägten Neigung zur Redseligkeit, ihrem notorisch gewesenen Radikalismus. Der höchste Prozentsatz unter den deportierten Verhafteten der Pariser Commune stellten 1871 die Schuster, und auch bei den 1848er Aufständen in Deutschland galten sie als typische Aktivisten.

Mit der rapid fortschreitenden Industrialisierung wurde es zum Ende der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts still um die Schuhmacher. Schuhfabriken, ausgestattet mit modernen Maschinen, produzierten hohe Stückzahlen zu billigen Preisen. Das trieb viele Schuhmacherwerkstätten in den Ruin oder zur Umstellung auf die Flickschusterei. Nur verhältnismäßig wenige überlebten als Maßschuhmacher – besonders in England, Frankreich, Italien und Ungarn. Ihre Nachfahren sind heute Hersteller luxuriöser, handgenähter Schuhe. Was ein guter Schuh einst war, weiß heute wahrscheinlich kein Käufer von Fabrikware mehr. Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ endet so: „Wer in neun Monaten meistens zu Fuß eine solche Wanderung macht, schützt sich noch einige Jahre vor dem Podagra (der Fußgicht; Anm. d. A.). Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten Heerdegen in Leipzig, muss ich Dir noch sagen, dass ich in den nehmlichen Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu lassen, und dass diese noch das Ansehen haben in baulichem Wesen noch eine solche Wanderung mit zu machen.“ Zu solcher Quälität gelangt der Bürger von heute nur durch ein sehr hohes Einkommen; oder durch deformierte Füße, die von den Krankenkassen mit Maßschuhen versorgt werden.

Die nach Jakob Böhme benannten orthopädischen Schuhmacherwerkstätten liegen in Berlin-Mitte, im ehemaligen Osten der Stadt, in der Nähe des Märkischen Museums. Bevor ich irgendwo hingehe, schaue ich immer in meinen alten Stadtplänen nach den Spuren der Geschichte. 1936 beherbergt das Gelände eine Gerberei, die noch weit bis in die DDR-Zeiten hinein in den Stadtplänen verzeichnet ist. Völkerkundemuseum und Russische Kommandantur bezogen die vorderen Gebäude. Heute residiert hier das Finanzamt. Alles wirkt, als wäre es nie anders gewesen. Das letzte der quadratisch im Ensemble stehenden alten Fabrikgebäude liegt im zweiten Hof, hat frischen gelben Verputz um die rot verklinkerten Fenster und Zierrahmen und ist fünf Stockwerke hoch. Herr Malinowski hat sein Büro ganz oben. Im Vorzimmer sitzt eine Sekretärin. Die Thermoskanne – auf dem Konferenztisch – ist mit frischem Kaffee gefüllt. Herr Malinowski bittet uns, Platz zu nehmen, und wirkt anfangs etwas aufgeregt und verlegen, was er aber hinter einem schnell gesprochenen Berlinerisch zu verbergen sucht.

„. . . Der Name stammt ja vom Poeten und Handwerksmeister, Geburtsdatum steht nicht genau fest, so 1575, gestorben ist er am 17. November 1624. Erlernt hat er den Beruf des Schuhmachers, wenn er nichts zu beißen hatte, ging er diesem Handwerk nach, wenn er wieder dick und satt war, dann hat er sich der schreibenden Zunft gewidmet . . . Er hatte ja solche Schriften verfasst, die zur damaligen Zeit Anstoß erregt haben. Ich hab’s noch mal nachgelesen, 1624 hat sich kein Pfarrer gefunden, der ihn beerdigen wollte . . . später hat man sein Grab geschändet. Also er stand abseits, alles in allem war das ein Revolutionär, aber in die andere Richtung hin. So. Wir haben also 1958 – am 6. Oktober – eine Genossenschaft, also einen Zusammenschluss von Privatbetrieben, gegründet. Der Name ,Hans Sachs‘ war schon vergeben und ,Medicus‘ ebenfalls, und da hat uns ein Orthopädiefacharzt vorgeschlagen, den Jakob Böhme zu nehmen. Unter diesem Namen haben wir uns gegründet, aus zwei Privatbetrieben mit 36 Gründungsmitgliedern. Dann kamen irgendwelche Sozialisten, solche Bürokraten, auf die Platte und sagten, wie kann man nur einen Kirchenfürsten verherrlichen und einer sozialistischen Genossenschaft so einen Namen geben! ,Solidarität‘ oder ,Fortschritt‘, haben sie gesagt, aber wir waren stur, und so ist der Name von 1958 bis heute geblieben. Wir haben das damals mit ‚e‘ geschrieben, es gibt ja zwei Schreibweisen.“ Jemand betritt nach kurzem Klopfen den Raum und zieht sich sofort wieder zurück. Herr Malinowski blickt zerstreut zur Tür.

„Na, und wir sind gewachsen, der Bedarf an Dienstleistungen für die Bevölkerung war riesengroß. In Spitzenzeiten haben wir 34.000 Paar Schuhe gemacht pro Jahr, mit 320 Beschäftigten und 15 Filialen. Heute haben wir 10 Filialen und nur noch 90 Arbeitskräfte, Lehrlinge eingerechnet, und heute haben wir zwei Geschäftsführer, ich als Orthopädieschuhmeister, und meine Kollegin ist Ökonom, sie hat den wirtschaftlichen Teil und ich den praktischen Teil, das nur als Information nebenbei. Man muss noch wissen, dass wir in der DDR ja auch eine Schuhmisere hatten, also wenn einer von der Norm abwich, der hatte Größe 47 vielleicht, oder wenn Frauen beispielsweise Größe 34, 35 hatten, da war nichts zu bekommen außer einem Turnschuh oder Kinderschuhen. Also wurde ein Paar orthopädische Maßschuhe zugeschrieben, Schuhe, die die Größe hatten oder wie Damenschuhe aussahen. Und die wurden dann behandelt wie die anderen Bedarfsträger, jeder bekam ein Paar Schuhe, und dann gab’s nach einem Jahr noch ein Paar zum Wechseln – also jedes Jahr ein Paar. Zum Glück hatten wir nur zwei Kassen in der DDR, inzwischen gibt’s ja 60 oder 100 Kassen, das ist natürlich was, wenn ich’s mal so sagen darf, was der Volkswirtschaft eine Menge Geld wegnimmt und eigentlich überflüssig ist . . . na ja. Aber Schaden gab’s bei uns auch genug. Die Bedarfsträger beispielsweise haben ihre orthopädischen Schuhe meistens nicht reparieren lassen, sondern weggeschmissen. Für Rentner gab’s 6 Mark Zuzahlung und für Berufstätige 14 Mark, ein paar neue Sohlen haben aber 18 Mark gekostet. Also gab’s neue Schuhe.

Trotzdem haben wir so um die 500.000 Reparaturen gemacht damals. Am Alex war eine Reparatur mit 24-Stunden-Service . . . ,Flinke Jette‘, wurde 1960 aufgemacht. Da war ja noch der Westen offen, und es kamen natürlich die ganzen leichten Mädchen von drüben und ließen sich ihre Absätze machen. 61 war’s dann weg, das Zusatzgeschäft, trotzdem wurden die Schuhreparaturen immer mehr. Hier im Haus haben wir dafür eine ganze Etage eingerichtet. Das war eine harte Arbeit, wo man dann gezielt Teilarbeit machte – auch in der Neuanfertigung wurde Teilarbeit gemacht –, denn sonst wäre das gar nicht zu schaffen gewesen mit den paar Mann.“ Das Sonnenlicht wandert über den mausgrauen Schreibtisch und über das Computerbild eines Knickplattfußes.

„Wir haben alles geteilt. Der Meister nimmt Maß, dann wird danach der Leisten geformt, die Bettung macht schon wieder ein anderer, der Korkarbeiter, dann muss der Schaft geschnitten werden, das sind schon wieder verschiedene Arbeitsgänge, bis der fertig gesteppt ist: Modell, Zuschnitt, Vorrichten, Steppen, Perforieren. So, dann kriegt’s der Bodenarbeiter, der den Boden zusammenbaut, das ist der erste, der die Brandsohle gemacht hat. So, der Nächste hat den Schaft vornübergeholt – weil wir mit der Maschine gezwickt haben –, dann hat der Maschinenflicker weitergemacht, die Seiten zugeklebt. So, und dann wird ausgebeizt, Sohle rauf, Absatz rauf, dann wurde ausgeputzt und gefinisht. Fertig! Das macht sonst alles ein Schuhmacher, bei ’nem Kleinen, wir haben’s zu fünfen, zu sechsen gemacht, in Arbeitsgänge geteilt. Das war unsere Stärke! Wir haben für ein paar orthopädische Schuhe 13 Stunden gebraucht, also wenn wir die Norm gegengerechnet haben gegen das Geld. Weil wir so tüchtig waren, durften wir viel Kooperation machen, haben für ,Hans Sachs‘ die ganzen orthopädischen Schuhe mit gemacht. Die sind dazu nämlich gar nicht mehr gekommen, weil sie die ganzen Kleinserien für den Westen gemacht haben, zum Beispiel eine Serie von Damenschuhen, über 400 Paar, sehr gute, ganz normale Luxusschuhe eben, gegen Devisen. Und deshalb hat ,Jakob Böhme‘ für ,Hans Sachs‘ 12.000 Paar orthopädische Schuhe im Jahr mit gemacht, zusätzlich zu unseren etwa 20.000. Die Norm war das Arbeitsaufkommen, man sagte, in der und der Zeit hat das fertig zu sein, also, baut auf, baut auf . . . immer dieselben schlauen Politiker! Und weil die DDR im Eiskunstlaufen ja ganz groß war, haben sie uns die Eiskunstlaufstiefel eines Tages auch noch aufgedrückt. Und dann haben wir auch noch Artistenschuhe machen müssen, weil wir den Zirkus Berolina hier in Hoppegarten hatten, im Winterquartier. Kurz bevor die im März dann auf Tournee gingen, haben sie gesagt, wir brauchen silberne Stiefel, goldene Stiefel, Schläppchen fürs Seil, und das ganz kurzfristig, 200 Paar. Aber das waren so die Ausnahmen, neben den orthopädischen Schuhen.“ Herr Malinowski hat sich inzwischen ein wenig entspannt und fragt, ob wir noch Kaffee wollen. Er selbst trinkt nichts. „Und dadurch, dass wir so viele Schuhe gemacht haben, hatten wir auch viele Lederreste. Ein Dummer von uns hat sich mal hingesetzt und daraus Flickentaschen gemacht. Er bekam eine Prämie. Aber im nächsten Jahr hatten wir die Flickentaschen mit im Plan drin, große Taschen, bunt und schwarz als Einkaufsbeutel, und kleine Taschen, so eine Art Abendtaschen. Da waren eigentlich ganz hübsche Taschen dabei.

Ja, es wurde viel aus Abfällen kreiert. Meist wurde das in die Zeit geschoben, wo kaum Reparaturarbeiten anfielen – wir hatten ja eine sehr starke Reparaturabteilung. Und da konnten wir dann die Kollegen, die keine Arbeit hatten, abziehen, und die haben für die AGP (Arbeitsgemeinschaft der Produktionsgenossenschaften) – die gibt’s übrigens heute noch – genauso wie die Kollegen aus sechs anderen Firmen dann die anfallenden Arbeiten gemacht. Da wurden die so genannten Römersandalen gebaut, allgemein unter Jesuslatschen bekannt. Die hatten schwarze Riemchen – wir hatten ja viel schwarze Lederabfälle von unseren orthopädischen Schuhen –, Lederbrandsohle und 8 mm Porokreppsohle drunter, dann kamen die in eine Plastetüte rein und wurden in den Westen verkauft. Hunderttausende von Jesuslatschen. Und man muss wissen, die DDR hat ja alles subventioniert, das ist allgemein bekannt gewesen, wir haben so 18 bis 19 Mark gekriegt das Paar, und verkauft wurden sie für 8,90 Mark je Paar.“ Ich erinnere mich genau, wir alle trugen damals diese Sandalen, es war der billigste Schuh. Man trug sie in der Uni, man trug sie beim Demonstrieren. Benno Ohnesorg trug sie, als er am 2. Juni 1967 während der Anti-Schah-Demonstration von der Polizei erschossen wurde. Die 68er Studentenbewegung trat in Jesuslatschen an gegen staatliche Willkür, Vietnamkrieg, die Herrschaft des Kapitals. Auf 8 mm Porokrepp, Brandsohle und Orthopädieschuhresten. Herrn Malinowskis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. „. . . ja, das war eine zeitlose Sandale, vor uns hat sie schon ,Hans Sachs‘ in Dresden produziert, dann haben wir’s übernonmmen. Das Modell hat ja der Fachverband festgelegt, der Fachverband Herrenschuhe/Sandalen. Es wurde gesagt, machen wir was Einfaches, wir wollen nichts Exklusives, wir wollen eine Gebrauchssandale haben, die auch im Preis stimmt. Aber das mit den Sandalen war immer eine Füllproduktion, auch mit den Taschen. Aber das wurde immer weniger. Dann, nach der Wende, 1990 rum, sind wir sie nicht mehr losgeworden, die letzten haben wir verschenkt, wir hatten sie ja auch in Weiß gemacht, weil wir vom Dameneiskunstlaufstiefel her starke Abfälle hatten.“

Der Meister macht eine kleine Pause und fährt in hohem Tempo fort: „Heute machen wir nur noch orthopädische Schuhe, in allen Farben, sie sollen ja modern aussehen, früher nahm man nur braunes und schwarzes Leder. Die häufigsten orthopädischen Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, sind Fußschwäche, Abnützungserscheinungen, Senkfüße, Plattfüße, zweitens sind das angeborene Anomalien und drittens durch Krankheit oder Unfall erworbene Schäden, bis hin zu Verstümmelungen. Sie müssen das so sehen: Wir waren ja mal ,Krüppelschuster‘. Es gab früher Krüppelheime . . . das letzte, das mir bekannt ist, ist das Oberlinhaus in Babelsberg. So vor 15 bis 20 Jahren war das noch Krüppelanstalt, sie hatten Briefbögen, wo das ganz offen draufstand, Krüppelanstalt. Das war also das eine, die angeborenen Leiden, und dann kamen die Kriegskrüppel dazu. 14/18 und 39/45, 14/18 gab’s sehr viele Unterschenkelprothesen zu machen. Oberschenkelprothesen . . . da war ja sonst nichts weiter . . . was für Orthopädiemechaniker in Frage kam. So, und der Krieg 39/45, der hat enorm viele Erfrierungen gebracht. Da war dann der Vorfuß erfroren in Russland. Beim Russlandfeldzug sind eine Menge Behinderte entstanden, auch bei den Flüchtlingstrecks, dann . . . egal, solche Leute jedenfalls, den Rest von denen, die haben wir versorgt, als ich angefangen habe 1953 mit der Lehre. Da haben wir die Fälle alle noch gehabt, die Kriegsversehrten alle. Aber so richtig geregelt war das nicht mit der Orthopädiemeisterprüfung, das kam erst später. Wann es genau losging, das weiß ich nicht, solange ich im Fach bin, gab’s schon richtige Orthopädieschuhmachermeister-Prüfungen. Also das muss so in den 40er-Jahren gewesen sein, wo man die einführte in Deutschland. Und wer im Orthopädiehandwerk gearbeitet hat, der wurde ja nicht eingezogen für den Kriegsdienst, der wurde freigestellt. Seit 37 gab’s da diese Zusatzausbildung für Schuhmacher, die orthopädische, und seit 1937 gab’s ja auch die meldemäßige Erfassung verbildeter Extremitäten . . . ja, das ist noch in Kraft! Alle Verbildungen der Extremitäten sind meldepflichtig durch Klinik oder Hebamme. Und das ist ja bekannt, was im 3. Reich für ein Schindluder getrieben wurde damit, da wurde ja nicht nur behandelt, da wurde ja gleich ausgemerzt . . . aber die Meldepflicht gibt’s nach wie vor. Gab’s auch im Osten, ist ja eigentlich auch richtig, denn bei Früherkennung kann man eine Menge Probleme behandeln und beheben.“

Wir brechen auf. Bei lockerer Unterhaltung lenkt Herr Malinowski seinen Mittelklassewagen, zügig die Spuren wechselnd, durch den Verkehr. Strausberger Platz, Karl-Marx-Allee, Frankfurter Allee, vorbei am Tierpark Friedrichsfelde bis nach Marzahn, wo er zusammen mit seiner Frau ein bescheidenes eigenes Haus bewohnt. Hinter dem niedrigen eisernen Zaun liegt ein gepflegter Vorgarten mit Gebüsch und Obstbäumen. Hinter dem Haus erstreckt sich der Garten mit Nußbäumen, Spalierobst und Blumenbeeten bis hin zum Bahndamm, auf dem die U-Bahn von Hönow zum Alexanderplatz vorbeifährt. Es gibt drei Garagen, in einer davon steht sein ganzer Stolz, ein offener schwarzer Sportwagen. Aber nebenbei ist er Ruderer, im Verein, richtiggehend aktiv. Die Gattin, eine schmale, dunkelhaarige Frau, begrüßt uns freundlich. Sie war Stepperin und kennt sich in seinem Metier aus, schweigt aber die meiste Zeit, während wir uns mit dem Meister unterhalten. Sie hat den Tisch in einem gewächshausartigen Wintergartenanbau gedeckt, Schokoriegel und „After Eight“-Täfelchen bereitgestellt. Im Wohnzimmer, durch das sie uns führt, stehen noch die unverwüstlichen DDR-Kunstleder-Sitzgarnituren, wie sie auch der Quantenphysiker Prof. Treder noch im Gebrauch hatte bei unserem Besuch. Es herrscht hausfrauliche Ordnung und Sauberkeit, im Regal der Schrankwand steht ein mundgeblasener Schuh aus lila Glas, Geschenke und Erinnerungsstücke bedecken Fensterbank und Wandregal. Auffallend sind eine Machete und eine bizarre Landschaft aus echten Schwämmen.

„Eigentlich wollte ich ja Zimmermann werden“, sagt Herr Malinowski, „aber daraus wurde nichts. Mein Vater ist auch Schuhmacher gewesen, Reparaturschuhmacher. Erst hat er im Wedding am Gesundbrunnen seine Werkstatt gehabt, dann ist er in die Wollankstraße umgesiedelt, da beim Kloster, am S-Bahnhof Wollankstraße gleich gegenüber, aber westliche Seite. So bin ich also auch Schuhmacher geworden, aber im Osten. Hab’s nicht bereut . . .“ Er legt seine kräftige Hand auf ein großformatiges Buch: „Das wollte ich Ihnen mal zeigen, da sind die kubanischen Fälle dokumentiert . . . Also dieser dreijährige Kubaaufenthalt, 1967–1970, das war eine Spende der DDR, hier vom Gesundheitsministerium an die Kubanische Republik, und zwar in Form einer kompletten Orthopädiewerkstatt. Komplett, das heißt, vom Mechaniker über den Bandagisten bis zum Orthopädieschuhmacher, mit allem Drum und Dran, mit Galvanik und allen Maschinen. Die haben wir hier in der DDR zusammengestellt und sie verladen auf der ‚Magdeburg‘ . . . und die ist dann untergegangen im Ärmelkanal. Ich war nicht drauf, ich habe zu der Zeit meinen Wehrdienst noch ableisten müssen. So, und nun musste die DDR noch mal das ganze Geld aufbringen und alles neu bereitstellen, denn versichert war ja nichts, Eigentümer war ja der eigene Staat. Diesmal ging alles gut. Unten bekamen wir Häuser und haben die Werkstatt aufgebaut, mit Hilfe der Kubaner in der Hauptstadt Havanna. Wir waren drei Techniker, drei Deutsche, wir haben Spanisch gelernt und dann einfach angefangen. Ich hatte 15 Lehrlinge, die waren teils älter als ich, einer konnte schon dies, der andere das. Ich habe jeden ein paar Sandalen machen lassen, was anfangs auf Ablehnung stieß, denn Sandalen für Männer waren verpönt. In Lateinamerika muss der Mann, wenn er aus dem kindlichen Alter herausgewachsen ist, lange Hosen tragen und geschlossene Schuhe, egal wie kaputt die sind, kurze Hosen und Sandalen an Männern, das sind Schwule. Wir haben also Mühe gehabt, trotzdem Sandalen machen zu lassen. Ich wollte aber, dass sie wissen, wie ’ne Pilotte wirkt, wie ein Knickfußkeil wirkt, dass sie am eigenen Leib sehen und merken, wenn sie da was reinfräsen, ob das gut oder schlecht ist. Und als sie die fertig hatten, da sind sie damit auf die Straße gegangen und haben aus Stolz darauf gepfiffen.“

Herr Malinowski zeigt das Buch, es enthält Schwarzweißabbildungen verschiedener orthopädischer Schuhe, die dann in der Werkstatt angefertigt wurden, und einen begleitenden Text in Spanisch. Abgebildet sind immer der Patientenfuß oder auch das Bein, der vorgefundene Schuh und der maßgeschneiderte orthopädische Werkstattschuh. „Ich hatte ja so für 1.000 Paar Material mitgehabt, und es war klar, wir können nur schweren Fällen helfen, nur Leuten, die Amputationen haben, hohe Verkürzungen, die mit anderen Schuhen absolut nicht laufen können. Also da gab’s ja noch viele Revolutionsopfer und auch diesen Fall hier: Da fehlten 25 cm Oberschenkel bei dem Mädchen, die ist immer so herumgelaufen mit normalen Schuhen, ist immer 25 cm runter bei jedem Schritt! Da haben wir ihr dann diese Konstruktion gebaut, die das ausgleicht. Mit ’ner Hose drüber hätte man gar nichts mehr gesehen, aber sie hat keine Hose angezogen. Und so habe ich also ausgebildet. Aber ich habe nie einem alles beigebracht! Es mussten immer drei sein, drei waren ein Team. Und da konnte nicht einer weggehen und sagen, ich mach mich selbstständig, da fehlten ihm die anderen beiden. Damals gab’s ja nur sieben Provinzen, da haben wir gesagt, nehmen wir aus jeder drei Mann, und davon der Beste, der hat die Meisterprüfung gemacht und musste die Werkstatt in seiner Provinz dann später leiten. Ich war schon so zehnmal wieder unten seit der Wende; voriges Jahr dreimal. 2000 war 35-jähriges Jubiläum von ,Cuba/DDR‘, so heißt die Werkstatt heute noch, und da war ich zur Feier eingeladen . . .“ Er zeigt uns die Macheten, die halbierten kubanischen Bambusrohre, die er in den Verputz der Wand als schmückende Linie eingearbeitet hat, und den stacheligen und zur Lampe degradierten Kugelfisch, den er einst tot am Strand fand mit Hilfe eines Gummihandschuhs aufblies und dann fachmännisch präparierte. Die Gattin, die damals nicht mit dabei war, lächelt wehmütig. Wir machen uns auf den Rückweg, um abschließend die Werkstätten zu besichtigen.

Unterwegs schwelgt Herr Malinowski in Erinnerungen an alte Zeiten und prominente Kunden, erzählt, dass er stets parteilos war und dennoch gut zurechtkam, dass Walter Ulbricht zu den Maßschuhkunden gehörte, ebenso Wilhelm Pieck und der Außenminister Lothar Bolz, Maßschuhe bekam auch Walter Felsenstein, und für den Schauspieler Hilmar Tate wurde in den 60er-Jahren ein echter Klumpfußschuh gefertigt für seine Rolle als Goebbels im Maxim-Gorki-Theater. Aber auch der Normalkunde liegt ihm am Herzen, die treuen Alten werden mit Hausbesuch und Fußpflege umsorgt, und auch die vorübergehend nach der Wende in den Westen Geflohenen kamen fast alle zurück, so dass der alte Stamm in etwa erhalten blieb. Ebenso verhält es sich beim Betriebspersonal: „Also man kann sagen, unten in der Werkstatt ist fast alles Eigengewächs, unsere Ausbildungstruppe. Bei den Meistern das Gleiche, die sind alle zusammengeblieben, weitgehend. Wir haben Glück gehabt, das Haus ist unser, das Grundstück ist unser, und, was noch wichtiger ist, wir werden für unsere Leistungen von den Kassen bezahlt, während andere Handwerker immer das Problem haben, sie kriegen zwar den Auftrag, aber am Ende kommt kein Geld . . .“ Wenig später betreten wir die Werkstätten. Die teils ineinander übergehenden Räume sind weiß getüncht und hell beleuchtet, es riecht nach Leder und heißem Gummi, darüber schwebt ein scharfer Lösungsmittelgeruch. Radiomusik, Schleifgeräusche, kurze Hammerschläge und immer wieder abbrechendes Rattern von Nähmaschinen bilden einen ineinander übergehenden Grundton. Die „Eigengewächse“ sind gestandene Frauen und Männer: die Modelleurin, über ihre Schäfte gebeugt, die Stepperinnen beim Zusammennähen der Schaftteile, ein älterer Mann, der den genähten Schaft mit Zwickzange und Metallnägeln am Leisten befestigt und mit dem Schusterhammer beklopft, einer, der alle Teile miteinander verklebt, einer, der die Sohlenkanten beschleift, und nicht zu vergessen die Lehrlinge, junge Frauen und Männer, mit großen, grünen neuen Schürzen. Auf den Tischen liegen die klassischen Werkzeuge und Instrumente, sie haben sich seit hunderten von Jahren kaum verändert. Auch die Leisten, bei denen man heutzutage bleibt, standen im Prinzip sehr ähnlich in den mittelalterlichen Zunftwerkstätten. Sie sind aus Buchenholz und werden maßgerecht für die jeweils individuellen Fußprobleme angefertigt.

Wir betreten das wohlriechende Lederlager, einen kleinen fensterlosen, kühlen Raum. In hohen Regalen liegen zusammengerollt verschiedene und verschiedenfarbene Leder, Felle genannt, jedes 1,5 bis 3 m[2]groß; auch ein künstliches Diabetikerleder, faserfrei, zum Schutz der entzündungsgefährdeten Füße. „Ich muss hier über alles den Überblick haben“, sagt Herr Malinowski und schließt die Tür, „nah an der Praxis bleiben, wenn wer fehlt beim Kork, was soll sein, dann schleife ich jederzeit Kork, wenn der Zuschnitt fehlt, gehe ich rein und schneide zu.“

In den Regalwägelchen neben den Arbeitstischen stehen die verschiedenen Schuhe, halb oder fast fertig. Moderne Modelle in hellen Farben, denen ihre Funktion nicht anzusehen ist, Frauenschuhe, Kinderschuhe, aber auch die altbekannten schweren, hohen, globigen aus schwarzem Leder werden verfertigt. „Das ist das Schwierigste, mobile Klumpfüße“, sagt Herr Malinowski, „welche, die so labil sind, dass sie keinen Halt haben, wo es an Muskulatur fehlt, wo man dann alles abstützen muss, damit der Fuß nicht umknickt beim Gehen. Bei so einem Schuh braucht man Stabilität, auch Kantenstabilität, damit sich der Fuß abstoßen kann.“ Er reicht mir den Schuh, der weniger schwer ist als erwartet. Ganz oben auf einem Regalwägelchen stehen zwei Gebilde mit dem Volumen eines größeren Übertopfes, sie sind aus grauem, weichem Leder, mit einer Paspelkante und Klettverschlüssen. „Elefantitis“, klärt uns Herr Malinowski auf, „hier ist mit Maßnahmen nichts mehr zu machen. Die kranken Füße können nicht mehr gestützt werden. Wir verhüllen das Volumen, und gleichzeitig schützen wir den Fuß vor äußeren Einwirkungen. So ein hoher Schuh muss sein, denn ein Halbschuh würde hier ja einschnüren, den Halt geben die Klettverschlüsse. Das sind Hausschuhe, denn der Kranke kann ja auf Grund seiner Fülle und Schwäche gar keine größeren Strecken mehr zurücklegen, da muss es wenigstens zu Hause einigermaßen schön und bequem sein.“