Immer wieder Männerbundlieder

Gurken kauen und auf das Essen warten: Wer als Iraner länger in Europa gelebt hat, spürt überall Klassenkategorien bei seiner Rückkehr. Beobachtungen aus dem Männerbereich auf einer Hochzeitsparty in einem südlichen Vorort von Teheran

von TIRDAD ZOLGHADR

Die Leute reden mit großer Vorliebe davon, wie chaotisch, vulgär und rundum abstoßend Teheran ist. Was sie damit meinen, ist, dass Teheran ein gutes Beispiel für die ausufernden Metropolen der Gegenwart abgibt. Obwohl man also durchaus das eine oder andere Argument für Teherans Mangel an Distinguiertheit vorbringen kann, gibt es eine grundlegende Ausnahme von der Regel: die Trennlinie zwischen balaye shahr und paiine shahr, dem Nordteil und dem Südteil der Stadt, die für die Trennung zwischen Reich und Arm steht. Von hier aus gesehen erscheint Teheran klar organisiert und geradezu altmodisch.

Ich wurde zu einer Hochzeit mitgenommen nach Shahr-e Rey, weit draußen im Süden, jenseits der Bahnstation in den Tiefen der Arbeiterviertel, wo sich streberhafte Online-Reporter nur hintrauen, wenn sie eine Studie für Merip (Middle East Research and Information Project) anfertigen oder nervösen Touristen das „historische Teheran“ vorführen. Die Vorstadt Shahr-e Rey liegt so südlich, dass sie für Leute aus dem Norden eigentlich nur als abstrakter Gedanke existiert. Sie ist ein Anhängsel am Stadtplan, oder, im besten Falle, der „historische Grundstein“ Teherans. Rey war schon eine Stadt, als Teheran, damals noch ein Dorf, vor mehr als zwei Jahrhunderten zur iranischen Hauptstadt wurde.

Ich kannte weder Braut noch Bräutigam, lediglich den Freund, der mich einlud mitzukommen. Ich war dankbar für die Einladung, da es sicher eine deutliche Abwechslung zu den rauschhaften Trash-Disco-Nächten sein würde, die im Norden als Hochzeitspartys fungierten.

Die Feier sollte im Talar-e Ayeneh (Spiegelsaal) stattfinden. Von außen erkennt man den Ballsaal an einem mit modischen Kunstblumenbouquets gefüllten Schaufenster und dem verblassenden orangefarbenen Neonschriftzug mit dem Namen. Man geht hinein und zwei Treppen hinauf zu einem Korridor, wo man, falls man weiblichen Geschlechts ist, nach links abbiegt in den Frauenbereich. Ansonsten geht man geradeaus weiter und betritt einen riesigen, in Neonlicht getauchten Raum, gefüllt mit wahren Massen von Männern, die alle an Gurken oder Mandarinen rumkauen. Im Geiste von Anstand und Bescheidenheit werden die Exzesse der Junggesellen-Party vor den Augen der Frauen durch eine fast deckenhohe Wand verborgen.

Da ich mit meinem Freund da bin, der scheinbar mit jedem einzelnen Gast im Raum persönlich bekannt ist, folge ich ihm entlang der unzähligen Reihen von Männern und Jungen. Ich schüttele Hände, lächle und hoffe, dass mir ein symphatisches, gedankenvolles und nicht zu schuldbewusstes – khoshbakhtam, khoshbakhtam – Lächeln gelingt. Immer wenn ich als „Herr Zolghadr, der frisch aus dem Ausland hier ist“, vorgestellt werde, gerät es ganz besonders sympathisch, gedankenvoll und schuldbewusst. Ich würde am liebsten einwerfen, dass ich schon seit einem Jahr hier bin, lasse es aber bleiben.

Ich setze mich zwischen meinen sehr beliebten Freund und den Cousin seiner Frau. Wie alle nehme ich mir zunächst eine Gurke und widme mich dann den Mandarinen. Ich fühle mich komplett fremd unter diesen Männern. Nachdem ich mein ganzes Leben lang ebenso stur wie selbstgefällig darauf beharrt habe, Iraner zu sein, sitze ich jetzt hier und habe seltsame xenophobische Impulse.

Als mein Bekannter in den Gebetsraum gegangen ist, komme ich mit dem Cousin seiner Frau ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er eine Dissertation über „Schach in persischer Literatur“ schreibt, und ich merke, dass ich mich besser fühle. Vielleicht ist es nichts weiter als die Freude darüber, auf einen Bürger der république des lettres zu treffen (Gott bewahre). Oder vielleicht realisiere ich einfach, dass meine düstere europäische Fantasie mit mir durchgegangen ist. Europäisch oder nicht, die Klassenkategorien lassen einen nicht los in Teheran. Man fängt an, Leute danach zu beurteilen, wie sie ihren Tee trinken oder ihre Augenbrauen zupfen. Es ist schlimmer als in London.

Aus dem Frauenbereich sind fröhliche Geräusche von schreienden, klatschenden und auf- und abspringenden Menschen zu hören. Ich greife nach einem Apfel, entscheide mich dann anders und esse noch eine Mandarine. Die Männer hier sehen gelangweilt, aber entspannt aus; sie sprechen leise oder starren einfach nur still ihre Servietten an. Selbst als der dem Männerbereich zugedachte Entertainer die Bühne betritt, gibt es kaum wahrnehmbare Reaktionen.

Der Entertainer ist von der Art Iraner im mittleren Alter, die wie Al Pacino aussehen. Langsame, bedachte Bewegungen, traurige Augen mit schlaffen Lidern, dazu gewölbte Augenbrauen, die seinem Gesicht den Ausdruck permanenter Fassungslosigkeit verleihen. Er beginnt eine lange Tirade über die religiöse Bedeutung des Klatschens. „Ich weiß, dass eine Menge Mullahs heute hier im Publikum ist“, ruft er, „und wir alle wissen, dass sie es wiiiirklich nicht mögen, wenn geklatscht wird.“ Dann folgt eine lange Reihe von Anekdoten, Witzeleien und Sprichwörtern, die in der leidenschaftlich vorgetragenden Aufforderung an das Publikum gipfeln: „Und jetzt Beifall für den Bräutigam. Klatschen Sie alle!“ Die Leute glucksen, legen ihre Gurken beiseite und klatschen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Kreischen, Stampfen, Brüllen und Klatschen aus dem Frauenbereich schon so ohrenbetäubend, dass man den Mann kaum noch verstehen kann, aber er macht weiter und fängt an Witze zu erzählen.

„Ein Flugzeug stürzt auf einer Kannibaleninsel ab. Vater Kannibale und sein Sohn schauen zu, wie die Passagiere aus dem Wrack stolpern. ‚Lass uns diese Frau essen!‘, sagt der Sohn. ‚Nein, Sohn, sie ist zu dürr‘, sagt Vater Kannibale. ‚Dann lass uns diesen Typen dort essen!‘ ‚Nein, Sohn, der ist zu fett, das ist nicht gut für dich.‘ Schließlich kommt eine junge, unzureichend verhüllte Frau aus dem Flugzeug. Ihr Kopfschal ist sehr sehr weit nach hinten gezogen, sie trägt Make-up, einen kurzen Rock, keine Socken und so weiter. ‚Essen wir sie!‘, sagte der Sohn. ‚Sei kein Idiot‘, sagte der Vater, ‚wir essen nicht sie, sondern deine Mutter.‘ “

Das Gespräch mit dem Teheraner Illuminaten zu meiner Linken setzt sich fort. „Es ist kurios, dass im Persischen für künstlerische Kategorien die französischen Begriffe benutzt werden: expressionisme, surréalisme, modernisme“, sagt er. Ich erwidere, dass sie entsprechend ihrer englischen Herkunft (expressionism, surrealism, modernism) benutzt werden müssen, aber er erwidert, dass, nun ja, die Engländer selbst ja auch die französischen Ausdrücke benutzten.

In der Zwischenzeit ist Al Pacino zum Singen übergegangen. Er hat eine großartige Stimme und interpretiert religiöse Lieder, Volkslieder, Männerbundlieder. Eines ist eine getragene, sehnsuchtsvolle Hymne an die iranischen Frauen: „Willst du eine kluge und starke Frau, geh nach Abadan / Willst du eine süße und hübsche Frau, geh nach Shiraz / Willst du eine fröhliche und lustige Frau ... / Aber, meine Herren, immer daran denken: Es geht nicht ohne Geld, ohne Auto, ohne Haus“ – und so weiter.

Als endlich der Bräutigam erscheint, erheben wir uns und applaudieren. Er wird eingehüllt von Super-8-Videokameras und Wolken von Toman-Scheinen, mit denen ihn die Leute bewerfen, während er an ihnen vorbeigeht. Horden kleiner Jungen zanken sich um das auf den Boden sinkende Geld. Der Mann sieht vollkommen erschöpft aus. Während er sich seinen Weg durch den Ballsaal bahnt, Hände schüttelt und höflich lächelt, stolpern die Kids um ihn herum, die in ihem wütenden Kampf um die Scheine Stühle und Gläser umwerfen und Obstschüsseln und Besteck durch den Raum segeln lassen.

Er schafft es letztlich bis zur Bühne, wo er zwischen zwei jungen Männern in Anzügen Platz nimmt. Sie sind seine saqdush, was auf Aseri „rechte Schulter“ heißt, aber umgangssprachlich für beide betreffenden Herren, rechts und links, benutzt wird. Genau genommen, so erklärt mir mein Freund, ist ein saqdush ein „gut aussehender, erfahrener junger Mann, der während der Hochzeitszeremonien dem Bräutigam zur Seite steht“ und als sein Ratgeber fungiert, besonders in der Frage dessen, worin angeblich nur verheiratete Männer erfahren sind. Tatsächlich wird von den saqdush nicht mehr erwartet, als dass sie eine Weile neben neben dem Bräutigam sitzen und ein hübsches Bild abgeben. Und das ist es, was sie im Augenblick tun. Zumindest tun sie ihr Bestes.

Pacino stimmt ein weiteres Lied an, und wir nehmen unser Gespräch wieder auf, das sich jetzt dem Thema des Erlernens von Fremdsprachen widmet. Und dann liegt der erste Hauch von Essen in der Luft, und alle springen auf. Was jetzt passiert, wird nur bei den formaleren Zeremonien praktiziert (niemals bei privaten Essen) und ist, so wurde mir gesagt, im Frauenbereich genauso gebräuchlich. Es wird in zahlreichen Romanen und Reiseberichten aus dem Iran beschrieben, immer mit demselben bestürzten – und durchaus gerechtfertigten – Tonfall. Nachdem man einen langen Abend lang seine Gäste mit Musik, Poesie und gelehrten Gesprächen unterhalten hat, stürzen diese sich auf das Essen, verschlingen es, so schnell sie können und ohne sich auch nur hinzusetzen, und gehen dann augenblicklich. Ich komme nicht umhin, mir zu wünschen, sie würden das überall so tun.

Übersetzung aus dem Englischen:Karsten Kredel