bücher für randgruppen
: Neue und nicht so neue Erkenntnisse aus der Welt der Neandertaler

Flachköpfe und Dickschädel

„Ein Neandertaler, den ich kämmen kann auf seinem Schulterblatt, der so’n richtigen Meisterringerkörper hat.“ Hanne Wieder, Sängerin und Schauspielerin (1929–1990)

In der kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal wurden im Jahr 1856 sechzehn Knochenreste eines Menschen gefunden. Drei Jahre später erschien Darwins Buch „ Origin of Species“. Darwins Buch und die Knochen markierten den Beginn der Paläoanthropologie. Der erste fossile Beleg für die Wandelbarkeit des Menschen war erbracht. Benannt wurde das Tal übrigens nach dem Kirchenlieddichter Joachim Neander: „Lobe den Herrn, den mächtigen König.“

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts diente der Lehmboden der Höhle als Tanzboden, lustige Künstlerparties wurden nämlich in der Grotte gefeiert. Eine hübsche Lithografie von 1826 zeigt Professoren und Studenten der Düsseldorfer Malerschule beim fröhlichen Umtrunk. Es wurde sozusagen auf den Gebeinen des weltberühmten Neandertalers getanzt, bis im Jahr 1852 schließlich der Gedanke aufkam, eben dort nach fossilen Resten urweltlicher Tiere zu suchen. Der Geologe Noeggerath aus Bonn sprach diese Vermutung zuerst in der Kölnischen Zeitung aus und einige Jahre später, 1856, berichtete die Bonner Zeitung in einer kurzen Notiz, dass beim Hinwegräumen des Tonschlamms ein menschliches Gerippe gefunden worden sei, das offensichtlich zum „Geschlecht der Flachköpfe“ gezählt habe. Dieses Geschlecht, so die Notiz, würde noch heute den amerikanischen Westen bevölkern und die Frage stelle sich, ob das Gerippe einem europäischen Urvolke oder einer mit Hunnenkönig Attila umherstreifenden Horde gehört habe.

Es macht viel Spaß, die alte faksimilierte Zeitungsmeldung anzuschauen, und hier wird auch die Qualität des anzuzeigenden Buches sichtbar. Es spannt einen großen Bogen um den Ort und die Geschichte der Entdeckung sowie um die damit verbundenen Personen.

Von westamerikanischen Flachköpfen redet heute zwar niemand mehr und auch die Aufteilung in längliche (Langköpfige) und rundliche (Kurzköpfige), wie sie der Politiker und Wissenschaftler Carl Vogt einst bevorzugte, spielt heute keine Rolle. Doch für die Autoren des Werkes, beide selbst Archäologen und Urgeschichtler, hatten diese Informationen eine umso größere Bedeutung. Ralf Schmitz und Jürgen Thissen haben nämlich im Zuge ihrer Recherche die lange verschollene Originalfundstätte des Neandertalers wiedergefunden. Und dabei auch gleich noch einige fehlende Knochen des weltberühmten Skeletts von 1856 ausgegraben und Teile eines zweiten Skeletts gefunden.

Diese Meldung ging vor zwei Jahren um, das Buch um die Entdeckung der Restknochen erschien daraufhin und es lagerte seitdem wie ein fehlender Knochen in meiner Abteilung noch nicht gelesener Bücher. Was für eine hübsche Entdeckung! Eine umfangreiche Kulturgeschichte in und um den Urmenschen herum. Nicht nur Entdecker, Forscher und Gelehrte werden porträtiert, auch der Neandertaler selbst mit Keule und wirrem Blick in einer zeitgenössischen Darstellung von 1907.

Dass der große Berliner Gelehrte Rudolf Virchow seinerzeit die These vertrat, die Abweichungen des Neandertalers von der Gestalt des modernen Menschen seien durch Krankheiten verursacht und keine Merkmale einer urtümlichen Menschenart, ist natürlich hoch bedauerlich. Virchows eigene Dickschädeligkeit in dieser Ansicht führte auf Grund seiner Autorität zu einer erheblichen Behinderung der Anthropologie, stellen die Autoren fest, die zurzeit wieder am Buddeln im Neandertal sind.

Dass sie schließlich auf „Höhlenbilder ohne jeden -ismus“ stoßen werden, wie sie Hanne Wieder in ihrem Chanson beim Neandertaler vermutete, ist dabei nicht zu erwarten. Der Neandertaler war kein Höhlenmaler. Er kratzte höchstens mal ein bisschen auf den Knochen seiner Beutetiere herum.

WOLFGANG MÜLLER

Ralf W. Schmitz & Jürgen Thissen:„Neandertal. Die Geschichte gehtweiter“, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2000, 330 Seiten, 49,90 DM