Der Glaube versetzt Grenzen

Die Ausstellung „Europa um 1000“ im Berliner Martin-Gropius-Bau zeichnet die historischen Verbindungen nach, die sich aus der Christianisierung in den mitteleuropäischen Ländern ergaben

Die Parallelisierung führt von der universalen Monarchie in der Nachfolge Christi zur Europäischen Union

von CHRISTIAN SEMLER

Um den Prozess der europäischen Einigung ideologisch zu unterfüttern, wird häufig auf die „Wertegemeinschaft“ des westlichen Europa rekurriert, wobei die lateinisch-christliche Prägung des „Abendlandes“ die Argumentationsbasis liefert. Small wonder, dass die ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten zur Europäischen Union – Polen, Tschechien und Ungarn – in diesem Zusammenhang auf ihre christlichen Geburtsurkunden aufmerksam machen, sie ihre „Ethnogenese“ im Rahmen des mittelalterlichen katholischen Weltkreises spielen lassen. Die Ausstellung „Europas Mitte um 1000“, derzeit zu sehen im Berliner Martin-Gropius-Bau, ist ein Produkt dieser Anstrengung.

Museumsleute, Historiker und Ausstellungsmacher aus den genannten Ländern plus Deutschland haben sich zusammengetan, um den Prozess der Christianisierung Ostmitteleuropas nachzuzeichnen. Unter vier zentralen Kapiteln, als da sind „Antikes Erbe“, „Lebensweise und Fernbeziehungen zwischen dem Abendland und Byzanz“, „staatliche Formierung“ und „ottonische Politik“, wurde eine Unmasse von Artefakten zusammengestellt: zeitgenössische Waffen, landwirtschaftliches Gerät, dazu Urkunden (meist im Original) oder Insignien der Königsgewalt (meist Kopie). Für die lieben Kleinen gibt es Mittelalterkurzweil, die Erwachsenen dürfen sich bei Computer-Animationen – Leben und Treiben in einem slawischen Dorf – weiterbilden. Hervorragend ediert der Katalog und zwei Bände Aufsatzsammlungen, unter deren Last sich der ermattete Besucher auf dem Heimweg krümmt. Die Ausstellung war schon in Budapest zu sehen, als Beitrag zum Millenniumsfest des ungarischen Staates, geht anschließend nach Mannheim, dann nach Bratislawa und Prag. Krakau wäre eigentlich zweiter Ausstellungsort gewesen, rutschte aber jetzt an die letzte Stelle. Der Grund: Geldmangel. So viel zum Verhältnis von materieller Basis und Museumsüberbau.

Für den Zweck des Unternehmens erweist sich das Jahr 1000 als hervorragend geeignet. Die Reichsgewalt liegt zu dieser Zeit in den Händen Kaiser Ottos III., eines jugendlichen Herrschers, durchdrungen von der Idee der Wiederherstellung des Römischen Reiches. Er ist tief gläubig, ein „Knecht Christi und der Apostel“, gebildet, unterwiesen in der römischen wie in der byzantinischen Geisteswelt. Seine Politik gegenüber den sich herausbildenden slawischen Reichen und Ungarn folgt kirchenpolitisch dem Vorbild von Byzanz. Sie zielt nicht auf Unterwerfung, sondern auf Kooperation und Bündnisse. Kennzeichnend hierfür ist Ottos Pilgerfahrt zu den Gebeinen des von den Pruzzen erschlagenen Missionars Adalbert, die der polnische Fürst Boleslaw der Tapfere in seine Hauptstadt Gnesen hatte schaffen lassen. Der „Akr von Gnesen“, anlässlich dessen Otto III. Boleslaw als „Bruder und Mithelfer“ des Imperiums auszeichnet und mittels dessen er Gnesen zu einem unabhängigen Erzbistum erhebt, ist in Polen jedem Schulkind geläufig. Auch Ungarn erhielt in der Folge dieser Politik ein nur Rom unterstelltes Erzbistum. Der Mediävist Michael Bargolte spricht von „friedlichem Interessenausgleich“.

Adalbert, der gewaltlose Missionar, und die Gnesener Akteure transportieren die Hauptbotschaft der Ausstellung, nämlich die Parallelisierung vom Jahr 1000 zum Jahr 2000, von der universalen Monarchie in der Nachfolge Christi zur Europäischen Union. Natürlich ist das eine einseitige Sicht. Wenn im Ausstellungstitel von der „Mitte Europas“ die Rede ist, sind die drei ostmitteleuropäischen Staaten gemeint. Das Imperium Ottos kommt nur als Rahmenbedingung für die christlichen Staatenbildungen im Osten vor, es fehlt jeder Bezug zu den ottonischen Reichsteilen. Und bei den Propagandamaterialien der Ausstellung, die eine Abbildung aus dem Aachener Kodex mit personifizierten Nationen zeigt, die dem Kaiser huldigen, ist die „Gallia“ (also der linksrheinische Reichsteil) einfach wegretuschiert.

Weit gravierender erscheint, dass der Machtkampf unterbelichtet ist, der sich bei der Christianisierung und Staatenbildung in Ostmitteleuropa zwischen Byzanz und dem Imperium, zwischen lateinischer und orthodoxer Kirche abgespielt hat. Die „katholische Option“ der Ungarn und Westslawen war machtpolitisch begründet, wird aber in der Ausstellung als quasi naturwüchsig dargestellt. Konsequenterweise findet man fast nichts über die orthodoxe Kiewer Rus – immerhin der mächtigste Staat im europäischen Osten und Verbündeter von Byzanz. Parallelen zwischen diesen Auslassungen und der gegenwärtigen Ostpolitik der EU drängen sich auf.

Trotz dieser geschichtspolitischen Hintergründe eröffnet die Ausstellung die Chance für eine breite Revision der traditionellen deutschen Geschichtsbetrachtung, die Otto III. als Spinner ansieht und seinen Nachfolger Heinrich II., der ständig Krieg mit Polen führte, als Vater der Ostkolonisation preist. Diese Art von aggressiv-nationalistischer Geschichtspolitik, für die etwa der Historiker Dietrich Schäfer stand, erlebte bei den Nazis ihre Apotheose. Sie wird jetzt kritisch revidiert, und eine Ausstellung, die den eigenständigen Beitrag der ostmitteleuropäischen Königreiche zur europäischen Staatsbildung herausstreicht, kann einer solchen Revision nur günstig sein.

Von diesem Blickwinkel her sind die, allerdings in ihrer Fülle überbordenden Ausstellungsstücke zu beurteilen, die die – auch materielle – Kultur des ostmitteleuropäischen Raums verlebendigen. Bedauerlich nur, dass die einführenden Schrifttafeln viel zu allgemein gehalten sind, dass den einzelnen Ausstellungsstücken ein interpretierender Beitext (ob akustisch vermittelt oder in Loseblattform) fehlt und dass schließlich der Aufbau der Ausstellung zu weiträumig, die Inszenierung und Lichtführung zu feierlich ausfällt.

Diesen Mängeln zum Trotz drängt sich dem Besucher, auch wenn er der sachkundigen Führung entraten musste, ein beruhigendes Resümee auf: Eigentlich haben wir alle einmal sehr ähnlich gelebt, Ähnliches geglaubt und gedacht und sind somit sehr alte Verwandte.

Europas Mitte um 1000, bis 19. 8., Martin-Gropius-Bau, Berlin. Danach, 7. 10.2001 bis 27. 1. 2002., Reiss-Museum,Mannheim. Internet: www.em1000.de