Der Lohn der Angst

von CHRISTIAN FÜLLER

Die Deutschen und ihre Prüfungen: Das war schon immer eine neurotische Angelegenheit. Wohl nirgendwo sonst werden Examina und Tests so sehr zum schicksalhaften Moment der Entscheidung überhöht wie im Land der Dichter und Denker. Die Folgen: Prüfungsangst, Schreibhemmungen, die Unfähigkeit, eine Sache abzuschließen, eine wachsende Abhängigkeit von psychologischer Beratung. Was muss passieren, damit der pragmatische Gehalt des Prüfens wieder zu seinem Recht kommt?

Und dann sagte Mareike einfach: „Raus jetzt! Wir machen das Ding ohne dich fertig. Du störst nur.“

Stefan wusste nicht recht, wie ihm geschah. Schließlich war er ja derjenige, der eine Arbeit schreiben sollte, die letzte für seinen Abschluss als Politologe. Wenige Tage zuvor war der 27-Jährige mit einem Fragment von Diplomarbeit bei seinen Freunden in Berlin angekommen. Im Gepäck: ein zehnseitiges Manuskript, handgeschrieben, kein zusammenhängender Satz und – ein Stapel Bücher. Eine Art Task Force für das Examen musste jetzt ran, um Stefan trotz Schreibhemmung und Denkblockade über die letzte Hürde seiner akademischen Laufbahn zu hieven.

Der Prüfling selbst, ein Meister im Aufschieben und Hinauszögern, lief beim Countdown noch einmal zur Höchstform auf. Während in den WG-Zimmern an zwei Computern neue Kapitel entstanden, notierte er am Küchentisch bereits Änderungswünsche. Mareike setzte ihn daraufhin mit vollstem Einverständnis der Eingreiftruppe vor die Tür.

Stefan mag ein besonders bizarrer Fall eines Examenskandidaten sein. Ungewöhnlich ist er nicht. Deutschlands Hochschulen sind nicht nur Orte planvollen Studierens, sie sind regelrechte Brutstätten von Prüfungsängsten und Schreibhemmungen. Es grassiert die Unfähigkeit der StudentInnen, eine Sache abzuschließen. Die Hälfte aller vereinbarten Hausarbeiten, so schätzt man, kommt nie zustande.

Vor Prüfungen, speziell vor mündlichen, sind die Wartezimmer der Studienberatungen voll. Dreißig Prozent der Studierenden, das ergaben repräsentative Umfragen, leiden unter Prüfungsangst. Die universitären Verhältnisse sind zwar (noch) „nicht pathogen“, wie der Psychoanalytiker einer großen Universität diagnostiziert. Das heißt, sie machen nicht krank. Aber sie schaffen bereits neue Märkte. Die Hardtwaldklinik in Hessen zum Beispiel bietet für StudentInnen eine „integrative Psychotherapie zur Bewältigung von Prüfungsangst“ an.

Auch die Hochschulen haben auf die Prüfungsmisere reagiert. Zu den üblichen Studienberatern sind Psychologen und Psychotherapeuten hinzugestoßen. Ihre Arbeit beschränkt sich nicht mehr auf einzelne Sprechstunden für nervöse Studiosi. Inzwischen sind regelrechte Kurztherapien möglich. Fünf Sitzungen sind die Regel, aber auch einjährige Behandlungen für hochgradig Irritierte gibt es.

Was sich an den Universitäten abspielt, liegt irgendwo zwischen gemeiner Faulheit und dem Drama des begabten Kindes. Die einen plagt tatsächlicher oder vermeintlicher Wissensmangel. Andere leiden unter Lern- und Leistungsstörungen, weil sie weder Zeit noch Arbeit richtig einzuteilen gelernt haben. Aber auch ambitionierte Jungakademiker suchen den Rat der Psychoberater. „Sie leiden unter unrealistischen und überhöhten Selbstansprüchen“, berichtet die erfahrene Unipsychologin und Autorin zahlreicher Fachbücher, Helga Knigge-Illner. Die Prüfung wird überhöht zum schicksalhaften Moment der Entscheidung, zum „Gottesbeweis“ – wie eine der ursprünglichen Bedeutungen des Wortes „Examen“ lautet.

Die Deutschen und ihre Prüfungen, das ist seit jeher eine neurotische Beziehung. Ob Klausur, Referat oder Multiple-Choice-Test – ihrer Natur nach haben Prüfungen zunächst die pragmatischen Funktionen, Wissenserwerb zu kontrollieren und einen Lernabschnitt zu Ende zu bringen. Nicht so im Land der Dichter und Denker: Da wurde das Prüfen zur Ausleseideologie und Bildung zum Mythos eines Bürgertums, dem statt Revolution zu machen nichts wichtiger war, als zum so genannten Geistesadel aufzurücken.

Bildung adelt – so sagt man deshalb in Deutschland, und sie erlöst vom grauen Alltag. Der Kaufmann des 19. Jahrhunderts, der etwas auf sich hielt, delektierte sich des Abends an der Lektüre des Homer, der KZ-Aufseher spielte nach „Dienstschluss“ Chopin. Prüfungen markierten in diesem System die Eintrittspforte zu den höheren Gesellschaftsschichten. Ein überkommenes Aufstiegs- und Bewährungsmuster, das nach wie vor das Thema Prüfung polarisiert.

Die Konservativen zum Beispiel haben nie wirklich überwunden, dass das Gymnasium seine Rolle als Toperziehungsanstalt einbüßte, nachdem man es in den Sechzigerjahren in der Bundesrepublik für breite Bevölkerungsschichten geöffnet hatte. „Man kann das Gymnasium nur retten, wenn man wieder schärfer prüft!“ – dieser Satz gehört zu den rückwärtsgewandten Standardargumenten, seit Bildungskrisen beklagt werden.

Dagegen kommen auch empirische Tatsachen nicht an, etwa jene aus der jüngsten Studie der OECD, wonach Deutschland nicht etwa zu viele, sondern viel zu wenig Hochqualifizierte ausbildet. Nur 28 Prozent eines Jahrgangs schließen hierzulande als Akademiker ab, in anderen Industrieländern sind es bis zu siebzig Prozent.

Auf der anderen Seite der Barrikade haben sich die Prüfungsdämonisierer verschanzt. Eine ganze Schulreformbewegung skandalisierte in den Sechziger- und Siebzigerjahren Prüfungen pauschal als Gewalt an Kindern. Das ideologische Theorem dazu, aus Psychoanalyse und Marxismus zusammengebaut, heißt Selbstregulierung. „Es ist zunächst nötig“, so steht es im Statut einer Reformschule, „dem Kind einen Freiraum zu schaffen, innerhalb dessen es frei von den Anforderungen an eine Zwangs- und Leistungsgesellschaft fähig wird, Selbstregulierung zu verwirklichen.“ Noten, Zeugnisse und eben auch Prüfungen gibt es dann konsequenterweise nicht mehr.

Zwischen den Anhängern solcher Thesen und Prüfungsfetischisten ist schlechterdings kein Konsens herstellbar. Und das ist, bei einem Blick in die deutsche Bildungsgeschichte, auch kein Wunder. Denn die extrem selektive Funktion des Gymnasiums war nicht nur ungerecht, sie war Realität. Sie entschied schon im ausgehenden 18. Jahrhundert über gesellschaftlichen Aufstieg, über Status, Prestige und Position – für ganz wenige. Lediglich 0,8 Prozent eines Jahrgangs legten in Preußen 1885 die Reifeprüfung ab. Und obwohl Industrialisierung und wachsender Bedarf an Ausgebildeten im Deutschen Reich seine solitäre Stellung in Frage stellte, wurde das Gymnasium nie wirklich in ein Bildungssystem der Chancengleichheit integriert – trotz heftiger Schulkämpfe.

Das Gymnasium ist so bis heute Fixpunkt beinahe jeder schul- und hochschulpolitischen Reformdiskussion. Dabei dreht es sich fast immer um die Mutter aller Prüfungen: das Abitur. Denn das Abitur, das Kernstück des deutschen „Berechtigungs- und Zertifikatswesens“, strahlt in beide Richtungen aus: nach unten ins Schulsystem, weil diverse Vorsortierungen das Gymnasium von den anderen Schulformen abschotten; und es wirkt nach oben ins Hochschulsystem, weil die Reifeprüfung seit Anfang des 19. Jahrhunderts zur exklusiven Eintrittskarte für die Universitäten wurde. Entsprechend widersprüchlich verläuft die Diskussion um die Güte des Abiturs, der allein seligmachenden Prüfung der Nation.

Am ausgeprägtesten ist die schizophrene Haltung zum Prüfen aber an den Universitäten. Dort feiert sie, zum alltäglichen Schaden der Studierenden, fröhlich Urständ. Prüfungen werden entweder als bloßes Selektionsinstrument benutzt – der Weg ins gymnasiale Lehramt etwa ist mancherorts mit achtzehn Prüfungen gespickt. Oder es dominieren studienbegleitende Leistungsnachweise. Bei dieser Form des Nichtprüfens wissen die Studierenden oft schon bald nicht mehr, wo sie sich eigentlich gerade befinden: leistungsmäßig und vom Studienfortschritt her.

Befragt man Studierende aber danach, was sie von der Einführung eines gestuften Studiums halten, so lehnen sie es empört ab. Nicht dogmatische Studentenvertreter, nein, Ottilie NormalstudentIn will das Studienmodell nicht, das nach einer angeleiteten Phase zu einem ersten Abschluss nach drei Jahren führt (Bachelor) und den klassisch wissenschaftlichen Weg einer kleineren Zahl von Studenten offenlässt. Verschult, kritiklos, bloß eine bessere Berufsausbildung sei dieses Bachelor-/Masterprogramm, lauten die Einwände. Paradoxerweise schütteln dabei eben jene StudentInnen mit dem Kopf, die von Prüfungsängsten und Schreibhemmungen heimgesucht werden, wenn sie erste wissenschaftliche Arbeiten abliefern sollen – also genau diejenigen, die ein solches Programm am nötigsten hätten.

Erneut ist hier eine Ideologie am Werk. Humboldts idealistischer Ansatz einer ganzheitlichen „Bildung zur Urteilsfähigkeit“ hat sich trotz gründlicher Erschütterungen (speziell im Nationalsozialismus) bis ins 21. Jahrhunderts fortgepflanzt. „Ja, Humboldt spukt immer noch in den Köpfen“, sagt Studienberaterin Knigge-Illner mit Bedauern. Der Prototyp des preußischen Karrierebeamten hat ganze Arbeit geleistet, als er die Universität der Moderne begründete: die Bildung der Persönlichkeit an Wissenschaft. Zentrales Motiv ist dabei die Einsamkeit – und Freiheit des Studierenden. Das einsame Studieren aber, so Knigge-Illner, „birgt erhebliche Probleme für die aktuelle Generation von Studierenden“.

Und anders als in den angelsächsischen Ländern werden die Studierenden hierzulande kaum an die Hand genommen. Sie sind beim Erbringen dokumentierbaren Studienfortschritts weit gehend auf sich allein gestellt. Scheine erringt man etwa in den Geistes- und Sozialwissenschaften dadurch, dass man nach einem Seminar noch einmal alle Gedanken für eine Hausarbeit zusammennimmt. Im Prinzip ein gutes und zu Selbstständigkeit erziehendes Prozedere. Meist aber sind korrespondierende Kommilitonen, die man um Rat, Hilfe und Unterstützung fragen könnte, dann weit – und wer steht die Semesterferien schon als Einzelkämpfer mit Thema, Fragestellung und dem korrekten Anbringen von Fußnoten durch?

Praktisch kein Studienberater plädiert heute noch für die Form eines Studiums, bei der erst an einem fernen Ende das wissenschaftliche Examen steht. Nicht um Humboldts famoses Modell zu verdammen, sondern um es zu retten, plädieren Psychologen für mehr Orientierung, Beratung und Kooperation im Grundstudium. Vielleicht sollten beide Seiten ideologisch abrüsten, Studierende wie Lehrende, damit Examina ihre Bedeutung eines „Gottesbeweises“ endlich verlieren; damit der pragmatische Gehalt einer Prüfung, dieses „Mit einer Sache fertig werden“ wieder zu seinem Recht kommt.

Dazu gehört, dass Studierende das Differenzieren von Studienabschlüssen nicht als Intervention in ihre Humboldt’sche Kernkompetenz der Urteilsfähigkeit begreifen. Was dokumentiert Wissenserwerb unkomplizierter und strukturiert das Studium besser als Prüfungen, die von ihrem ständischen Dünkel befreit sind? Im Gegenzug müssen die Universitäten ihre Prüfungsformen pluralisieren. Es gibt vielfältigere Methoden, erworbene Fähigkeiten abzurufen, als die auf den Einzelnen gerichtete Aufforderung, das Erlernte zu repetieren. Auch ein irgendwie geartetes Produkt kann eine Prüfung sein: eine im Team erarbeitete Präsentation, ein auf Argumentation zielender Essay.

Erste Schritte der Universitäten gehen nicht weit genug. Nicht nur an der privaten Universität Witten/Herdecke gibt es Kurse in wissenschaftlichem und kreativem Schreiben. Der Unterschied zu anderen Hochschulen an dieser anthroposophisch inspirierten Ausbildungsstätte ist der, dass es zwei Schreibseminare für 1.200 Studierende gibt – und nicht, wie sonst üblich, zwei für zwanzigtausend. Das Schreiben wird hier auch nicht als Krückenkurs für Schreibbehinderte begriffen. Schreiben gilt als zentrale Ausdrucksform, die in Witten zum „studium fundamentale“ gehört, wo die Universität reflexive, ästhetische und kommunikative Kompetenzen vermitteln will.

Nach dem Kursus für wissenschaftliches Schreiben entfährt der Wittener Dozentin der frivole Satz: „Ich will meine Studenten erst mal scheitern lassen.“ Anderswo hätte dieser Spruch die Studis zum Unipsychiater oder zur Magister-Task-Force getrieben. Hier klingt er anders. Er hat so gar nichts mehr von dem Gewalt-antun, Aussortieren oder Auf-höhere-Aufgaben-vorbereiten, das dem Prüfen sonst anhängt. Prüfungsvorbereitung hat hier etwas Spielerisches. Scheitern wird zur Chance.

Ach, auch Stefan, der mittlerweile für das Goethe-Institut auf einer schönen Mittelmeerinsel Sprachkurse erteilt, hält übrigens Prüfungen ab. Ohne Teamwork zuzulassen, versteht sich.

CHRISTIAN FÜLLER, 37, ist Inlandsredakteur der taz und derzeit im Vaterschaftsurlaub