Über die Dörfer

Eindrücke von einer Kulturmission impossible: Die Moderne und das Regionale will das „Festival der Regionen“ verbinden. Freie Künstlergruppen treffen in Österreich auf die Landbevölkerung, etwa in dem Lieblingsprojekt „Ein Dorf tut nichts“

Kleine Kinder sangen mit hellen Stimmen: „Ende der Gemütlichkeit, Ende der Gemütlichkeit!“

von DETLEF KUHLBRODT

Wenn man als Berlin-Kreuzberger nach Linz kommt, scheint einem das Jackett, das zu Haus noch ganz normal war, plötzlich schäbig zu sein. Die Jeans ist viel zu alt, und man versteht zwar die Intention der freien oberösterreichischen Kulturgruppen, die in diversen Dörfern, Kleinstädten und eben auch in Linz zehn Tage lang unter dem Motto „Das Ende der Gemütlichkeit“ der herrschenden Pausbäckigkeit ein Ende bereiten wollten. Aber man findet es auch ein bisschen seltsam, denn man selbst verfolgt ja eher das gegenteilige Projekt einer etwas gemütlicheren Einrichtung des eigenen Lebens.

Pünktlich zum Beginn des „Festivals der Regionen“ begann vergangene Woche der Sommer und schaute auf den Tisch des Cafés am alten Hauptplatz, an dem Martin Lengauer von der PR saß. Anfangs der wilden 80er seien, so erzählt er, als Festivalvorläufer die von freien Kulturgruppen getragenen Landesausstellungen vom Staat unterstützt worden, um den andernorts üblichen Häuser- und Straßenkämpfen vorzubeugen. 1993 fand das erste „Festival der Regionen“ statt. Man versuche, „die Moderne und das Regionale“ zu verbinden und die ländlichen Einwohner nicht vor den Kopf zu stoßen, sondern, soweit möglich, in die Projekte einzubinden.

„Und Gemütlichkeit?“ – „Wenn es überhaupt etwas spezifisch Österreichisches gibt, so ist es die Gemütlichkeit!“, unter der man sich wohl etwas leicht asozial Provinzielles mit Hang zum Spießgesellentum vorstellen sollte. „ ‚Die Lage in Deutschland ist ernst, aber nicht hoffnungslos, die Lage in Österreich ist hoffnungslos, aber nicht ernst‘, heißt es in dem Bonmot von Karl Kraus“, sagte Martin Lengauer. Jedes Festival legt seinen Schwerpunkt auf eine unterschiedliche Region Oberösterreichs. Diesmal war das Mühlviertel dran.

Auf dem Hauptplatz der altertümlichen Mühlviertelzentrale Freistadt sangen kleine Kinder mit hellen Stimmen: „Ende der Gemütlichkeit, Ende der Gemütlichkeit!“ Dann verteilten sie Stimmzettel, auf denen man ankreuzen sollte, ob man für oder gegen ein Ende der Gemütlichkeit ist. Ein kalter Wind, der nicht Kunst war, wehte über den Platz, den der Regisseur Kurt Palm gemeinsam mit vielen anderen gestaltet hatte. Manu Pfaffenberger hatte 5.000 Paare abgetragener Schuhe in Reih und Glied auf den Marktplatz gestellt. An den Schuhen waren Zettel mit den Sorgen ihrer ehemaligen Besitzer. Braune Slippers sagten „Sucht“, Turnschuhe sprachen vom „Gefühl, dass mich keiner mag“ oder „meine Freunde lachen mich wegen meiner alten Kleidung aus“.

Die Ortsgruppe der FPÖ war auch dabei. Sie hatte populistisch den Protest gegen das nahe liegende tschechische AKW Temelín ausgestellt. Nicht weit davon verkaufte die „1. Kärntner Kurschluss-Handlung“ antihaiderianische Kunstgegenstände, während in einem urgemütlichen Hinterhof Mühlvierteler Witze gesungen wurden und der Essayist Franz Schuh in der Kirche eine Predigt zum Thema Gemütlichkeit vortrug. Außerdem stanken hundert abgehackte Kuhfüße von Kurt Palm ein bisschen. Auch die Klanginstallation „A so a Wahnsinn“ von Ines Kargel wollte an BSE erinnern. „Da wird der ganze Hauptplatz verschandelt“, sagte jemand.

Am Rande stand der Rasenmähermann in einem hellgrauen Anzug, der mit Sponsorenlogos – etwa der Rasenmäherfirma Viking – bepflastert war. Da hieß er noch Robert Walcha, von Beruf Architekt, repräsentierte den Linzer Technosound, der härter sein soll als die Wiener Kifferweisen, und sagte: „Mir gefallen vor allem die ganzen zynischen Projekte.“ Dann verwandelte er sich in Herbert Mulch, einen Ordnungs- und Begradigungsfanatiker, dessen Mission es war, hundert Kilometer kreuz und quer durchs Mühlviertel zu mähen, um in das wilde Wuchern der Natur wieder Gleichmaß und „Wachstumseffizienz“ zu bringen. Von da an kam er immer durchgedrehter und lustiger tagtäglich im Fernsehen. Am Ende seiner Mission musste er einsehen, dass die Vielfalt des Wildwuchses doch schöner ist als die totale Landschaftsbegradigung.

Auch man selbst fuhr durch die Gegend. Vieles war seltsam. Das Kommunikative am Gebotenen bestand meist in einem alltagsnahen Verfremdungseffekt, also darin, den Zuschauer zum Teil der Kunstprojekte werden zu lassen. Otto Mittmannsgruber zeigte in zwölf Supermärkten ein Video in Endlosschleife, in dem ein Kind die letzten 200 Schlagzeilen der Kronenzeitung immer wieder vorlas. Ein Filialleiter verbannte das Video gleich nach dem ersten Tag. Das „theatercombinat wien“ ließ das Alte Testament in der von christlichen Nachinterpretationen bereinigten Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig 7 mal 24 Stunden an schönen Orten im Freien von den Einwohnern vorlesen. Wenn Einwohner ihren Lesetermin versäumt hatten, lasen sie selbst. Sie fuhren auch mit einem Bus durch die Gegend und lasen mit Lautsprecher. Selbst Kinder zeigten einem manchmal einen Vogel. Vermutlich hätten sie das nicht getan, wenn man für irgendwas Reklame gemacht hätte.

Auf dem Reichenthaler Marktplatz kam ein Mann vorbei und sagte: „Gesindel!“ und „Wer bezahlt euch überhaupt?“

Andernorts, in der nachmittäglichen Sonne vor einer Dorfkirche, war man gerade bei der Sintflut. „Alles, was Hauch in den Nasenlöchern hatte, starb“, las ein Mann mit einem T-Shirt, das an die „Weltmeisterschaft für Forstarbeiter 1998“ erinnerte.

Der Mann kam aus Eberhardschlag, einem Dorf, dessen vierzig Bewohner sich bereit erklärt hatten, an dem Projekt „Ein Dorf tut nichts“ von Elisabeth Schimana und Markus Seidl mitzuwirken. Helfer erledigten alles, was anfiel. Die Nichtstuer waren größtenteils Nebenerwerbsbauern. Sie durften weder arbeiten noch kochen, Blumen gießen oder Auto fahren und genossen ihr Nichtstun mit ansteckender Fröhlichkeit, denn „der Herrgott hat die Welt gemacht, um sie anzuschauen“.

Zu sehen gab's nichts auf den Höfen, außer dass es in der Scheune Abendbrot gab. Als Journalist setzte man sich dazu und plauderte mit den Dörflern über Sinn und Unsinn von Arbeit. Einer erzählte, er hätte vor Jahren einmal einem, der aus Hamburg kam, ein Haus gebaut; dann lachte er, weil ich ja auch auch aus Deutschland kam. Eigentlich war das Lieblingsprojekt der Festivalmacher eine reine Mediengeschichte und fand nur in in den Köpfen der Nichtstuer statt und in den Medien, die darüber berichteten.

Am Abend fuhren wir ins Café Druszba nach Harrachsthal in die äußerste Pampa zu Karl Katzinger, der manchmal auch John Tylo oder Dragan Torpedowicz heißt. Karl Katzinger ist ein Freakkünstler – oder wie soll man sagen? Ein Nonkonformist, der Filme macht, zwischen Mitbürgern, die ihre Freizeit mit Autowaschen verbringen und ihm ablehnend gegenüberstehen.

Das Café Druszba in seiner Scheune muss man sich als eine Art Paradies vorstellen. Man dachte an Alice's Restaurant, ohne noch zu wissen, wie das eigentlich ausgesehen hatte. Nur die Vibes waren ebenso großartig. Katzinger also hatte unter dem Motto „2nd world meets first world“ Künstlerfreunde aus Russland, Jugoslawien und anderen Ländern eingeladen, die dort wohnten und in seiner Scheune ihre Sachen zeigten. Am Nachbarhaus hing ein Schild: „Hurra! Uschi wird 40!“ Lang sprachen wir über Uschi.

Einen Tag nach meinem Besuch gab Katzinger durch, Nachbarn hätten erwirkt, dass sein Café ab 22 Uhr geschlossen werden müsse. Man fantasierte einen Tag lang über aggressiv-spießige Nachbarn und haiderhörige Polizisten, die den Künstler so „Easy Rider“-mäßig bedrängen würden. Dies erwies sich dann als Gerücht; kurz vor Ende des Projektes seien sogar einmal Nachbarn vorbeigekommen, erzählte jemand.

So gab es vieles auf diesem Festival. Am alltagsnächsten und verkunstungsfernsten waren zwei Obdachlosenprojekte: eine von Obdachlosen veranstaltete Stadtführung durch Linz und der von Peter Arlt organisierte „Kongress der StraßenexpertInnen“. Auf ihm breiteten zehn Leute aus Zürich, Berlin, Köln, München und Hamburg, die auf der Straße lebten oder noch leben, ihr Straßenwissen aus. Es ging um gute und schlechte Städte, um Fragen der Toilette, um Frauen und Männer und um obdachlosenfreundliche Gestaltungen von Parkbänken.

Herbie von der Berliner Obdachlosenzeitung Motz würde im nächsten Jahr am liebsten etwas Ähnliches in Berlin veranstalten. Gerd Glässer, der am Münchner Goetheplatz zu Haus ist, erzählte lachend eine Geschichte mit elf Ps: „Peter pimpert Paula. Pimmel passt prima. Plötzlich platzt Präser – Päng – darauf einen Dujardin!“ Horst, ein Besucher, der lange in der Hölle zu Haus war, war betrunken. Als der Kongress vorbei war, kam der ihm zugeteilte Sozialarbeiter vorbei und schimpfte, er solle gefälligst kommen und: „Dafür habe ich nicht 500 Stunden in dich investiert!“

Auf der Heimfahrt im Zug hing ein Exemplar der Zeitschrift natur & kosmos an einem Band vor meinem Sitz. Titelthema war: „Profitcenter Wildnis – Naturschutz muss sich lohnen“. Da musste ich wieder an Herbert Mulch, den einfachen Mäher, denken.