Gedankenbilder

In ihren Ausstellungen in Neapel versuchen sich Oswald und Ingrid Wiener an einer poetischen Erkenntnistheorie

Die Ausstellung „Concetti“ von Oswald Wiener in der Fondazione Morra ist ein Kontrapunkt zu dem Gehupe der Vespas und dem Geschrei der Händler in dem volkstümlichen „Quatiere della Sanità“ in Neapels Innenstadt. Zugleich sind die „Vorstellungen“ des österreichischen poeta doctus ein starkes Plädoyer für eine künstlerische Beschäftigung mit mathematischen Theorien der Wahrnehmung.

Der Ausstellungsraum präsentiert schwarze Tischchen mit eingelassenen Monitoren, auf denen grafische Zeichenketten vorüberziehen. Ihnen sind ausführliche Tafeln mit schriftlichen Erklärungen beigesellt. Das erinnert an die Frühzeit der Computerkunst, als die Pixel laufen lernten. Aber in eben dieser Frühzeit befindet sich noch der Wissensstand über mentale Bilder, folgt man Oswald Wiener, der gemeinsam mit Gesche Joost, Stefan Schmidt und Florian Thümmel die Ausstellung entwickelt hat.

Wiener weist mit ihr auf den geringen Kenntnisstand hin, der über die Natur der menschlichen Gedankenbilder existiert. Seit der Veröffentlichung des Romanfragments „Verbesserung von Mitteleuropa“ 1969 hat sich Wiener von den frühen Lorbeeren nicht beirren lassen, sondern Mathematik und Computerwissenschaften studiert, um herauszufinden, wie „er eigentlich tickt“. Ist sein dichterisches Gehirn ein Rechenzentrum, das gezielt hochrangige Lyrik produzieren kann, oder beginnt Dichtung dort, wo die Rechenkunst aufhört? Die Ausstellung in Neapel stellt visuell die Atome von Wieners Erkenntnistheorie dar. Ausführlich beschreibt Wiener dies in den jüngst erschienen „Materialien zu meinem Buch Vorstellungen“.

Zeitgleich findet in Neapel eine Ausstellung der Traumzeichnungen seiner Frau Ingrid Wiener statt. Sie zeigt Aquarelle von Traumszenen, an die sich die Künstlerin kurz nach dem Erwachen erinnert. Neben liebevollen Details aus den Jahren des Miteinanderdenkens sensibilisieren die Blätter für die Prozesse der mentalen Bilderzeugung. Die eigens für die Ausstellung verfassten Texte von Fritz Heubach und Oswald Wiener argumentieren, dass die fantastischen Traumbilder nicht als Erklärungen bizarrer Träume interessieren, sondern als persönliche Erforschung von Darstellungsgesetzen.

Die Szenen und Schriftzüge auf den Aquarellen sind Berichte aus einem privaten Forschungslabor, in dem die Künstlerin untersucht, welche Gesetze die Bildung von Traumbildern und ihre Notation bestimmen. Die Begrenztheit der menschlichen Symbolverarbeitung, so ein Fazit der beiden Ausstellungen, ist eine Möglichkeit, um Zwänge bei der Gestaltung mentaler Vorgänge zu diskutieren und damit die lebendige Frage, was künstlerische Freiheit im Zeitalter der Denkmaschinen ist. NILS RÖLLER

Ingrid Wiener: „Träume/Sogni“. Ausstellung und Katalog mit Texten von Oswald Wiener und Fritz Heubach, bis 27. 7., e-m arts, Via Calabritto 20, Neapel. Oswald Wiener: „Vorstellungen/Concetti“, bis 27. 7., Fondazione Morra, Via Vergini 19, Neapel