Kratz den Eurozentrismus

Goran Bregović und sein meditativ sinfonisierendes Subversionsorchester in Berlin

Das Ambiente hätte kaum idealer sein können. Das Großensemble von Goran Bregović – vor allem bekannt geworden durch die Filmkompositionen für seinen langjährigen ehemaligen Freund Emir Kusturica – residierte unterhalb des mondänen Aufgangs zur Alten Nationalgalerie. Schon auf der Brücke über die Spree, direkt gegenüber vom Dom, traf sich das Berlin der neuen Mitte. Eigentlich eine Gesellschaft, die der alteingessene Westberliner, noch mit Smog und Kohlenschleppen sozialisiert, lieber meidet. Aber was soll man diesen Leuten außer ihrer recht schicken Kleidung an so einem Abend eigentlich vorwerfen?

So lag denn eine relaxte Unaufgeregtheit in der Luft. Goran Bregović steht kurz nach acht auf der Bühne. Sein Orchester beheimatet drei lustig kostümierte Sängerinnen aus Sofia. Eine komplette Streicherarmada aus Poznań in Polen. Und ein Blasorchester.

Seit 1995 ist Bregović mit dieser Riesenreisegruppe unterwegs. „Für die meisten Beerdigungen oder Hochzeiten sind wir leider zu teuer“, hat er mal gesagt. Denn sie sind ja eine „Wedding&Funeral-Band“. Bei einer der zahlreichen späteren Zugaben des Abends demonstriert das Orchester denn auch die verschiedensten Beerdigungsmelodien: ernst und getragen für den hohen Staatsfunktionär, etwas lockerer für den Normalbürger. Was Bregović wohl für Milošević spielen würde?

Politik aber ist für ihn kein verbales Thema. Obwohl die irrsinnigen Kriege in seiner Heimat sein Leben radikal verändert haben. Mit einem Mal fand der ehemals populärste Rockmusiker Jugoslawiens sich in Paris wieder. Hier hatte er 1991 eigentlich nur ein paar Wochen für Filmarbeiten zu Kusturicas „Arizona Dream“ sein wollen. Für den 1950 in Sarajevo Geborenen – Vater Kroate, Mutter Serbin, selbst verheiratet mit einer Muslimin – war der Beginn des Krieges in Bosnien eine radikale Zäsur. Auch persönlich: Mehr als zehn erfolgreiche Alben hatte Goran Bregović schon auf dem Konto, er war ein Star und besaß sogar eine kleine Adria-Insel. Aber auf sein Geld und seine Insel hatte er nun plötzlich keinen Zugriff mehr. Auch deshalb komponierte er in Paris verstärkt Filmmusik – von irgendwas musste er schließlich leben.

Seit 1995 hat er sich vom Film zurück in das grellere Rampenlicht bewegt. Nun aber ist er kein Rockstar mehr. Wie er da so im hellen Anzug vor all den Caipirinha-Süchtigen zwischen seiner Band hockt, wirkt er wie ein schelmischer Clown, der den Leuten insgeheim mehr serviert, als ihnen bewusst ist. Seine Musik evoziert plötzlich Bilder im Kopf von fliegenden Fischen, Johnny Depp oder durchgeknallten Zigeunern auf der Donau. Aber da ist mehr unter der Oberfläche. Bregović kratzt auf einer anderen Ebene seines Balkanmixes an einer merkwürdig ethnisch definierten, letztlich eurozentristischen Weltsicht. Dieses Orchester ist, gerade weil es teilweise fast akademisch daherkommt und minutenlang meditativ sinfonisiert, ein Stück Subversion.

Punk endete laut Bregović, als die Sex Pistols ihre Gitarren zu stimmen begannen. „Out of tune“ müssen die Dinge für ihn sein. Schon deshalb ist Nationalismus für ihn kein Thema. Er spielte schon verbotene Lieder mehrerer Ethnien seiner heute aufgesplitterten alten Heimat. Und man spielte seine Musik auf Demos in Belgrad.

Die mehreren tausend Zuschauer in Berlin sind Bregović schon fast zu begeistert – er muss sie ein wenig beim Mitsingen bremsen. Die Zugaben dauern trotzdem unendlich lang. Die Band scheint fast wie im Rausch. Später, als es dunkel ist, räkeln sich die Leute auf dem Rasen, um „Arizona Dream“ auf der aufblasbaren Leinwand zu schauen. Jetzt hören wir einige Songs noch mal, und für eine Sekunde hat man den Eindruck, die Band liefe mit ihren Instrumenten spontan um die Zuschauer herum.

ANDREAS BECKER