„Film ist Guerillaarbeit“

Der Regisseur und haitianische Exkulturminister Raoul Peck hat mit „Lumumba“ einen Film über die Ermordung des ersten Premierministers des unabhängigen Kongo gedreht. Ein Gespräch über postkoloniale Geschichtsbilder, „Terminator“ auf Haiti und die Haltung der deutschen Filmförderung

„In Deutschland kann ich keine Filme machen, weil keine Offenheit da ist.“

Interview von DOMINIC JOHNSON
und PETRA WELZEL

taz: Raoul Peck, Ihr Film über Patrice Lumumba beginnt mit dem Stillleben eines opulenten Büfetts in nobler Gesellschaft. Das erinnert an den Beginn des Films „American Psycho“, wo der Highsociety auf großen Tellern kunstvolle Häppchen kredenzt werden. Ist „Lumumba“ eine Art „African Psycho“?

Raoul Peck: Für mich geht es darin um die Welt der Politik und Macht und wie sich Menschen verhalten. In der Welt, die ich in „Lumumba“ zeige, geht es nicht um die Hautfarbe. Es geht um Menschen, die die schlimmsten, aber auch die schönsten Dinge machen können.

Der Film zeigt, wie Lumumba 1960 Premierminister des unabhängigen Kongo wurde, wie er dann unter Mitwirkung der ehemaligen Kolonialmacht Belgien ermordet wurde – eine Geschichte, die Afrika bis heute bewegt. Hat diese Geschichte für Sie nichts Spezifisches?

Ja und nein. Mich hätte die Geschichte nicht interessiert, wenn es nur um diesen einen Mann gegangen wäre. Ich würde auch keinen Film über Che Guevara drehen, wenn es nur darum ginge, ihn zu glorifizieren. Mich interessiert an der Geschichte Lumumbas das Beispielhafte, der Bezug zur Gegenwart.

Was bedeutet Ihnen dabei die Figur Lumumba?

Als Mythos interessiert er mich weniger, es sei denn in der Hinsicht, dass auch in Afrika die Leute ihre Helden brauchen. So viele gibt es davon im globalen Bewusstsein nicht, im Kino schon gar nicht. Ich merke bei Aufführungen des Films in der Dritten Welt, wie wichtig es den Leuten ist, ihre eigene Geschichte auf der Leinwand zu sehen und sich darin wieder zu finden. Lumumba ist für mich ein Symbol, ein Schlüssel, um zu verstehen, was danach kam. Zum Beispiel, warum in Kongo heute immer noch Krieg ist. Es gibt dort bis heute dieselbe Kontinuität von Gewalt und Tod. Aber weder die Belgier noch die Amerikaner fühlen sich verantwortlich.

Viele Kongolesen gefallen sich in dieser Opferrolle und sagen, sie seien seit 40 Jahren die Opfer einer Weltverschwörung und der Film beweise das. Ist das nicht auch eine Gefahr?

Natürlich. Deshalb zeige ich ja auch die Fehler ganz offen. Dass Lumumba nicht bereit war, politische Kompromisse zu machen, dass er arrogant war gegenüber der Opposition.

Der Film soll also allen, auch den Kongolesen, einen Anstoß zum Nachdenken geben?

Ja. Es geht um heute. Der Film lässt dem Zuschauer genug Spielraum, sich sein eigenes Bild der Geschichte zu machen. Und das ist das Wichtigste für mich, dieser Gedankenprozess, der freigesetzt wird. Ich will Diskussion provozieren.

Und findet die Diskussion statt?

Aber ja! Einen der stärksten Momente hatte ich in Algerien. Während der Diskussion über den Film in einem Kino merkte ich, dass im Saal Leute saßen, die schon sehr lange nicht mehr miteinander geredet hatten. Eine ältere Frau, die als Heldin des Unabhängigkeitskrieges bekannt war, sich aber zurückgezogen hatte, diskutierte mit anderen Menschen, die eher regimetreu waren. Sie sprachen darüber, was bei der algerischen Revolution herausgekommen ist, an welchem Punkt man anfangen sollte, sich selbst zu kritisieren. Irgendwann ist ein Mann aufgestanden und sagte: Ich habe mich jahrelang allein gefühlt in Algerien, aber heute und hier fühle ich mich nicht mehr allein. Es war ein starker Moment.

Wie ist die Reaktion in Europa?

Ganz anders. Ich glaube, in Europa herrscht keine afrikafreundliche Stimmung, sodass so ein Film es schwerer hat. Unter Lehrern ist die Reaktion großartig. Sie arbeiten mit dem Film, es gibt Dossiers für den Schulunterricht. Auch die Filmkritik war zu 90 Prozent ziemlich gut. Aber gerade von linker Seite gab es auch Gegenstimmen, weil sie eingefahrene Positionen beziehen. In Frankreich hat Le Monde den Film stark kritisiert. Und Le Monde hat zusammen mit Libération und Inrockuptibles eine Meinungshoheit. Wenn man kein Budget für eine US-amerikanische Werbekampagne hat, ist man nach so einem Artikel durchgefallen. Es gibt viele Franzosen, die denken, Afrika habe nur ein Gesicht, und die akzeptieren nur bestimmte Afrikafilme. Es hieß in Frankreich nach einer Pressevorführung, Lumumba sei nicht Afrika. Die Franzosen glauben immer genau zu wissen, was Afrika ist. Sie haben ein Problem mit schwarzen Figuren, die glaubwürdig spielen, Französisch ohne Akzent sprechen und über Politik reden. Es gibt leider eine negative Tradition des afrikanischen Films in Frankreich.

Dabei sagt Frankreich doch von sich, dass es den afrikanischen Film fördert.

Das stimmt, aber was daraus geworden ist, ist nicht ermutigend. Es gibt in Europa ein Desinteresse an Politik, an Dritter Welt, man will kein Elend mehr sehen, keine schwierigen Probleme lösen. Heute ist es viel leichter, eine Komödie zu verkaufen als einen politischen Film, und dann auch noch in der Kombination mit Schwarz und Afrika.

Aber es werden doch hier und in Amerika durchaus auch politische Filme gedreht. Und in Amerika läuft Ihr Film ja recht gut, vielleicht auch, weil er ein Stück weit amerikanisch gemacht ist.

Aber ich bin kein Amerikaner, und habe auch nicht das Budget einer amerikanischen Produktion. Im Gegenteil, ich bin ein Hochstapler. In Amerika sagt man: „Ihr Film sieht nach 20 Millionen Dollar aus, Sie haben ihn mit vier Millionen gedreht, wie haben Sie das gemacht?“

Nach dem Erfolg im Ausland ist Ihr Film ja nicht mehr ganz so marginal. In Deutschland scheint das anders zu sein, nur mit einer Kopie geht er hier an den Start.

Für mich hat Deutschland zum Glück keine allzu große kommerzielle Bedeutung. Die Leute vom Evangelischen Zentrum für Entwicklungsbezogene Filmarbeit, das den Film mit finanziert hat, zeigten ihn praktisch sämtlichen Verleihern, großen und kleinen. Keiner war interessiert. Ich zeige ihn jetzt hier nur, damit ihn ein paar Leute sehen können. Eigentlich lohnt es sich aber überhaupt nicht. Mir wäre es lieber, man wartet, bis er hier anerkannt wird und in den richtigen Verleih kommt.

Hat Deutschland ein Problem mit politischen Filmen?

Ich kann da noch keine Theorie entwickeln. Deutschland hat eine der besten Filmförderstrukturen der Welt, und trotzdem ist der deutsche Film auf dem internationalen Markt nicht präsent. Ich habe meinen ersten Film „Haitian Corner“ in Deutschland gedreht. Aber danach wurde es schwieriger. Mit einem Drehbuch, angelehnt am Freitod des Flüchtlings Kemal Altun, bin ich einmal beim Fördergremium des Bundesinnenministeriums bis in die Endauswahl gekommen. Ein Deutschtürke und ich als Haitianer wurden abgelehnt, weil, so sagte man mir später, in unseren Drehbüchern der deutsche Bezug fehlte. Das heißt, ich kann hier keine Filme machen, weil keine Offenheit dafür da ist. Als ich mich kurz nach dem Mauerfall entschied, aus Deutschland wegzugehen, war das auch eine berufliche Entscheidung. „Lumumba“ hätte ich hier nie drehen können.

Die größte Kritik übt der Film an Kongos ehemaliger Kolonialmacht Belgien. Wie wird der Film dort rezipiert?

Erstaunlich gut. Dort ist er besser gelaufen als in Frankreich. Wichtig werden auch die Fernsehausstrahlungen sein. Wir warten deshalb noch auf ganz harte Diskussionen. Die einen sagen: Das ist unerhört. Von den anderen habe ich sehr viel Unterstützung erfahren. Es gibt junge Leute, die regelrecht wütend geworden sind in Diskussionen, weil sie sich betrogen fühlen von ihren Schulen, von ihren Eltern.

Was würden Sie einem afrikanischen Filmemacher heute raten, der auch so einen Film drehen möchte?

„Auch in Afrika brauchen die Leute ihre Helden. So viele davon gibt es nicht.“

Ich weiß es nicht. Wenn ich in den USA afrikanische Filmemacher treffe, ist das, als ob sie erst jetzt entdeckt hätten, dass so etwas möglich ist. Ich glaube, viele von ihnen hatten schon die Idee aufgegeben, dass man auch andere Inhalte mit dem Instrumentarium des kommerziellen Films transportieren kann.

In Afrika scheint die Filmindustrie aber in schlechter Verfassung zu sein.

Das ist viel komplizierter. Für Filmemacher aus armen Ländern wird es immer schwieriger, Filme zu produzieren, wenn es keine nationale Filmförderung gibt. In Afrika gibt es da nur ganz wenige Länder. Versucht man im Ausland Geld zu bekommen, sieht man, dass zurzeit selbst deutsche oder französische Filmemacher Schwierigkeiten haben, Geld zu kriegen.

Heißt das, dass sich Filme zunehmend dem amerikanischen Mainstream anpassen müssen? Auch Ihr Film ist in vieler Hinsicht amerikanisch.

Natürlich, ich musste den Film ja verkaufen. Die Filmindustrie ist eine Industrie, und es geht um Geld – leider. Und ich habe mich dafür entschieden, dass, wenn ich Politik mit Filmen machen will, dann auch auf der großen Leinwand. Ich drehe auch immer noch Dokumentarfilme, aber wenn man die Menschen erreichen will, dann muss man sie dort erreichen, wo sie sind. Ich habe deshalb aber nie politische Kompromisse gemacht.

Muss man sich nicht letztendlich doch dem internationalen Filmcode anpassen?

Man kann mit dem Genre spielen. Ich bin wie viele Afrikaner auch mit amerikanischen Filmen groß geworden. Das ist Teil unserer Erbschaft. Aber man muss es nicht unbedingt übernehmen, man kann tricksen. In einem kleinen Dorf in Haiti, dort wo mein Vater herkommt, gibt es einen Filmvorführer mit fünf Videokassetten, der einmal in der Woche unter freiem Himmel mit einem Generator Videokino macht. Er zeigt „Terminator“ – auf Englisch ohne Untertitel. Die Kinder können kein Englisch, aber sie haben sich nun ungefähr 60-mal „Terminator“ angeschaut und können den Film auswendig. Ich bin sicher, sie machen daraus etwas anderes. Kinder können tricksen. In Senegal und Kamerun gucken die kleinen Kinder Dinge wie „Terminator“ an und machen daraus ihren eigenen Film. Genauso wie ich als Kind glaubte, Afrika ist Johnny Weissmuller als Tarzan. Als wir dann im Kongo lebten, habe ich mich mit Chita, dem Schimpansen identifiziert, weil der viel humaner war als viele Schwarze, die ich im Kongo traf. So entstehen Filme im Kopf. Ich habe auch oft von meinem Film gesagt, es ist Guerillaarbeit. Du musst zustoßen, bevor man dich ertappt.

Wobei könnte man Sie denn ertappen?

Alle meine Filme stehen vorher schon auf Papier, das die Geldgeber bekommen. Im Fall von „Lumumba“ haben sie gelesen, dass dies ein politischer Thriller ist, und gesagt, den Film unterstützen wir. Aber ich muss zu diesem Zeitpunkt noch nicht mein endgültiges Ziel auf den Tisch legen. Dann käme man in ganz unnötige Diskussionen hinein. Ich liefere am Ende ein Produkt, das den ersten Anspruch erfüllt, habe aber auch mein eigentliches Ziel mit eingebracht. Und das ist so eine Art Guerilla.