Ungebaute Flugblattverteilbomben

Revolutionäre alten und neuen Typs: Der Berliner Radiomoderator und Diaschnipsel-Spezialist Jürgen Kuttner veranstaltet einen Salon mit vermischten Intellektuellen. Kürzlich wurde ost-west-kontrovers über 68 debattiert

Wie in einem Lehrbuch unterschieden sich Semler und der Sponti B. im Auftritt

In den letzten Jahren haben in Berlin die inhaltsorientierten Treffen zugenommen. Sie finden meist im Osten statt. Bei manchen werden sogar Anwesenheitslisten geführt und Sanktionen verhängt, wenn jemand dreimal nicht da war, um die Verbindlichkeit zu wahren. Auch der Radiomoderator und Diaschnipsel-Spezialist Jürgen Kuttner veranstaltet regelmäßig zusammen mit seinem Radiokollegen Ronald Galenza so einen „Salon“ mit vermischten „Intellektuellen“ zwischen 30 und 50. Manchmal sind auch Leute aus der eher linksökologischen Zukunftsabteilung von Mercedes dabei. Dann trinkt man ein paar Bier und bespricht die Dinge, die grade anstehen. Anfang des Jahres war 68 angesagt, und im Kuttner’schen Salon referierten Zeitzeugen: B., ein erfolgreicher Vertreter der Spontigeneration, und der taz-Kollege Christian Semler.

Für die im Salon vertretenen Westler war die antiautoritäre Revolte durchgehend positiv besetzt, hatte sie für uns doch noch immer Momente eines – nicht eingelösten – Versprechens, an dem wir hingen oder in dessen politisch-ästhetischer Tradition wir uns in der taz fühlten; gerade auch Anfang der Neunziger, als die taz in Lager gespalten war, die einander aufs Schärfste bekämpften.

Die Beziehung der Ostler zur neuen Westlinken, zur Westsubkultur, war notgedrungen nicht ganz so unmittelbar. Sie waren zum Teil – wie Kuttner – mit großen Erwartungen nach der Wende zur taz gekommen, die den Ruf hatte, in authentischer Weise das 68er-Erbe fortzuführen, und waren dann enttäuscht worden. Ihre Hauptvorwürfe gegen die taz-68er, die zum größten Teil längst nicht mehr in der taz arbeiten, waren Renegatentum, Verrat, Einschwenken auf die Mainstreamdiskurse und spezieller: dass die ehemaligen Radikalinskis ihre eigene Vergangenheit auf dem Rücken der DDRler zu bewältigen versucht hatten; dass sie also die DDR- und Stasi-Debatten umso selbstgerechter führten, je weniger sie sich verpflichtet fühlten, über ihre eigenen alten linksradikalen Irrtümer nachzudenken, die sie stillschweigend ad acta gelegt hatten. Außerdem waren die Ostkollegen der Ansicht, dass wir seit 1998 von 68ern regiert werden und dass der Kosovokrieg ohne diese 68er nie stattgefunden hätte. Während wir uns unser 68er-Bild nicht kaputt machen lassen wollten, schienen die Ostfreunde offensichtlich ein bisschen genervt.

Die Einladungsrundmail für den Abend mit Christian Semler jedenfalls hatte eher despektierlich geklungen, nicht nur weil dessen Name verdreht worden war: „Wir freuen uns, Herrn Christian STEMMLER von der taz begrüßen zu dürfen, er spricht über die wilde linke Vergangenheit der 68er mit allen bekannten Folgen in den Siebzigern bis heute (Fischer, Trittin, Gewalt, Demos, Splittergruppen und alles noch nicht Gesagte).“

Christian Semler hatte dann einen langen historischen Vortrag gehalten, der vor allem im Vergleich zum lockeren Bericht des ehemaligen Spontis interessant war. Wie in einem Lehrbuch unterschieden sie sich in ihrem Auftreten und in ihren Ansichten. Semler erzählte viel von den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen, flocht die eine oder andere Anekdote ein – wie das war, als man mit Ostgenossen über komische Flugblattverteilbomben nachgedacht hatte oder darüber, dem Springerhaus die Kanalisation abzustellen. Er hielt einen schönen, runden historischen Vortrag, in dem er um Ehrlichkeit bemüht war. Er erzählte zum Beispiel, wie sie einem koreanischen Genossen, der sie gefragt hatte, ob er zurückgehen solle, zugeraten hätten; als Kommunist müsse man dort stehen, wo man gebraucht werde. Zwei Monate nachdem der Genosse zurückgegangen war, sei er tot gewesen.

Christian Semler schien den Revolutionär älteren Typs zu verkörpern, der sich aus objektiven Gründen auf die Seite der Revolution geschlagen hatte. Subkulturelle Dinge spielten keine Rolle, und wenn er in der ersten Person sprach, so verwendete er eher ein technisches Ich.

B., der Sponti, dagegen entsprach dem neueren, Post-68er-Typus des antiautoritären, emotionsreichen Revolutionärs, einem, der gegen den Nazivater rebelliert hatte und dem neben den dezidiert politischen Aktivitäten auch die Selbstemanzipation, das Schuleschwänzen, Haschrauchen, Häuserbesetzen, In-WGs-Wohnen am Herzen gelegen hatte.

Er blickte nun mit einer gewissen Lockerheit, die den Zynismus streifte, zurück – natürlich haben „wir auch die ,Dialektik der Aufklärung‘ und so einen Scheiß gelesen“. Man konnte sich gut in ihn hineinversetzen; nicht nur weil er jünger war als Semler, sondern vor allem, weil seine Erzählung – wie soll man sagen – ich-näher, also im guten Sinne subjektiver schien.

Am Ende stellte B. die einfache Frage, ob es nicht sein könnte, dass demnächst auch ganz andere mit dem gleichen Recht gegen das Establishment, das man selber inzwischen verkörpere, rebellieren könnten. Ich war sehr empört darüber, zum Establishment gezählt zu werden, überlegte aber auch, ob die türkische Jugendbande, die ich verdächtige, ständig meine Fahrradreifen zu zerstechen, in mir nicht doch zu Recht einen etablierten Trottel sieht.

DETLEF KUHLBRODT