Das Stereotyp der Verwahrlosung

Die in Berlin lebenden Sinti und Roma fühlen sich ausgegrenzt. Drei Wissenschaftler kommen in ihren neuen Studien zu dem Schluss, dass die aktuelle Flüchtlingspolitik diese Ausgrenzung nur verstärkt. Positive Gegenbeispiele gibt es kaum

von CHRISTIAN TERIETE

Als 1991 in Jugoslawien der Krieg ausbrach, flüchteten 3.000 bis 5.000 Roma nach Berlin. Häufig handelte es sich dabei um ehemalige Gastarbeiter, andere hatten hier Verwandte. Trotz dieser Anknüpfungspunkte waren sie nicht willkommen. Denn Sinti und Roma sind in Deutschland die unbeliebteste Minderheit. 1994 sagten 68 Prozent der Deutschen, sie könnten sich Menschen dieser Abstammung nicht als Nachbarn vorstellen. Daran hat sich wenig geändert.

Eine Folge verfehlter Politik und Ergebnis von Stereotypen. Zu diesem Schluss kommen drei Wissenschaftler, die ihre neuen Bücher am Dienstagabend im Brechthaus vorstellten. „Ein schlechtes Gewissen haben die Deutschen lediglich im Hinblick auf die Judenverfolgung entwickelt“, sagte der israelische Historiker Gilad Margalit. Die Vorurteile gegen so genannte Zigeuner hätten die NS-Zeit hingegen überlebt.

Darunter leiden die Roma in Berlin heute immer noch. Mit ihrer Situation beschäftigt sich die Studie der Berliner Politikwissenschaftlerin Brigitte Mihok. Zwei Jahre lang sprach sie mit 185 Familien. Das Ergebnis: Auf Ämtern fühlen sich die Roma unerwünscht, auf der Straße interessiert sich keiner für sie. Mihok skizzierte einen Alltag ohne jeden Kontakt zur Bevölkerung, in Flüchtlingsheimen ohne ausreichende Verkehrsanbindung.

Die deutsche Zigeunerpolitik war von derartiger Ausgrenzung schon in der Nachkriegszeit bestimmt. Das stellt der Berliner Politikwissenschaftler Peter Widmann in seiner Langzeitstudie über Minderheitenpolitik auf kommunaler Ebene fest. Integration sei dadurch verhindert worden. „Das Stereotyp vom verwahrlosten Zigeuner hat sich durch die zunehmende Verelendung der Sinti und Roma aufgrund ihrer schwierigen Lebensbedingungen scheinbar selbst bestätigt“, erklärt Widmann.

Dementsprechend hat Mihok in ihren Gesprächen viele deprimierte Roma erlebt. „Ich will ja arbeiten, aber ich darf nicht“, sagt einer. „Meine Kinder dürfen nicht aufs Gymnasium“, klagt eine andere. Und ein Dritter verspricht: „Wir würden ja gehen, wenn es in Serbien anders wäre.“ Aber das ist nicht so einfach.

Im Sommer 1997 kündigten 600 Berliner Roma an, in ihre Heimat zurückkehren zu wollen. Zugesagte EU-Gelder für ein Wiederaufbauprogramm wurden jedoch 1999 wieder gestrichen. Als dann die Aufforderung zur Ausreise kam, gingen die meisten Roma nach Amerika. Erst im Januar 2000 wurden tatsächlich EU-Gelder bewilligt. 300 Roma kehrten nach Bosnien zurück und bauten ihre Häuser wieder auf. Doch sie sind die Ausnahme.

Mihok schätzt, dass noch 2.500 von ihnen in Berlin leben. Von diesen kämen 85 Prozent aus der Serbischen Republik. „Sie können nicht zurückkehren, weil Serben ihre Häuser besetzt halten“, sagt die Wissenschaftlerin. Eine Veränderung der Lage sei nicht absehbar. „Bislang ist keiner zurückgekehrt und dort in Ruhe gelassen worden“, zitiert sie einen Rom.

Deshalb möchten viele in Deutschland bleiben. Das Abgeordnetenhaus hat dazu beschlossen, dass Kriegsflüchtlinge jetzt eine dreijährige Aufenthaltsbefugnis beantragen können. Bedingung: Sie müssen seit mindestens sechs Jahren hier leben und einen festen Job in Aussicht haben. Bisher durften die Roma gar nicht arbeiten.