Wie Karl May in Kingston

Dancehall-Reggae-Veranstaltungen verzeichnen in Deutschland immer größeren Zulauf. Wer aber hierzulande diesen Sound produziert, seien es nun Bands wie Seeed oder ein HipHopper wie Jan Delay, wird an jamaikanischen Standards gemessen

von NILS MICHAELIS

Die DJs auf der Bühne machen es einem schwer, ihre Musik zu mögen. Selten wurde der protestantischen Regel des „Wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören“ mehr entsprochen. Kaum erkannte man, welcher Hit beginnt oder in welche Richtung der Dancehall-Beat läuft, war schon wieder Schluss, mündeten die Takte im aufgeregten Sprechgesang des MC.

Noch vor zwei Jahren, im Berliner WMF, konnte man erleben, wie diese Art von DJ-Set einem eher verstörten als begeisterten Publikum serviert wurde. Inzwischen, wir befinden uns im Zelt des Berliner Tempodrom zur langen Nacht der Soundsystems 2001, ist die Verwunderung der Zuschauer einem überschwänglichen Enthusiasmus gewichen. Takte werden nur angedeutet statt ausgespielt, und im Publikum antwortet man wie im Fußballstadion mit Fahnen, man singt mit, schreit mit und entsichert die Trillerpfeifen.

Soundsystems wie Such A Sound, Concrete Jungle und Super Sonic sind nicht allein zu Haus: Das Publikum ist nicht mehr nur Zuschauer, sondern Schiedsrichter einer Inszenierung, in der das Tore schießen nicht vollzogen, sondern lediglich angedeutet wird.

Schneller als Reggae

Fies ist das, aber hochgradig spannend. Reggae und Dancehall in Deutschland: Bevor Seeed auf den Plan traten und sich auf Platz 5 der LP-Charts wieder fanden, bevor Jan Delay, D-Flame oder Patrice ihre guten bis hervorragenden Platten veröffentlichten, hatten seit über zehn Jahren Soundsystems den Boden bereitet. Ende der 80er-Jahre konnte man in Berlin, Köln oder Hamburg erstmals diese merkwürdig dahereiernden Bässe vernehmen und sich über die synthetischen Sounds des digitalen Schlagzeugs wundern.

Nicht nur schneller als der handgemachte Reggae klang diese Musik, sie hatte auch sonst eine ganz andere Gefühlschemie. Denn dieser neue Sound erforderte zunächst einmal die Opferung des einen oder anderen Mythos. Politisch korrektes Aufbegehren, wie es Public Enemy im HipHop vollzogen, suchte man in dieser Musik vergeblich.

Statt dessen präsentierten sich auf den Plattencovers Typen, die mit ihren Golduhren, Bundfaltenhosen und Seidenhemden auf unerfreuliche Weise an den Manta-Proll von nebenan erinnerten. Doch so schnell das Vorurteil bei der Hand war, so schnell zeigte es erste Risse. Wenige Tage nach dem 15. Januar 1991, die USA hatten gerade zum Angriff auf den Irak geblasen und konnten auf eine bis weit in die hiesige Linke reichende Fürsprache bauen, war es der jamaikanische Dancehall-Sänger Cocoa T, der mit „No Blood For Oil“ einen der ersten Protestsongs sang. Trotz überbordender Trash-Symbolik ahnte man, dass das Herz dieser Musik vielleicht doch auf so manchem rechten Fleck schlug.

Um diesen Sound in Deutschland durchzusetzen, brauchte es zunächst viel Basisarbeit. Denn im Gegensatz zu Frankreich und England, wo die Reggae- und Dancehall-Szene traditionell von karibischen Einwanderern getragen wird, besaß diese Kultur hierzulande lange ein Imageproblem. Norbert Rudnitzky, Betreiber des Downbeat-Labels, das u. a. Seeed veröffentlichte, sagt: „In den letzten zehn Jahren gab es immer wieder mal eine Reggae-Nummer, die einen Sommer funktionierte, aber im Grunde war Reggae bei den Hipstern verpönt und stand zu sehr im Schatten des Marley-, Birkenstock- und Strickmützen-Images.“

HipHop als Vorreiter

Schwang in der Rezeption der ersten Generation von Reggae-Hörern eine romantisierende Suche nach weniger entfremdeten Lebensformen mit, stehen nun folgende Generationen vor völlig neuen Ausgangslagen. Rudnitzky: „Inzwischen sind die Leute HipHop-sozialisiert. HipHop basiert auf ähnlichen Regeln: Es gibt eine fette Anlage, zwei Plattenspieler und einen MC am Mikrofon. Doch mit der Kommerzialisierung des HipHop nahm das Interesse von Teilen des Publikums ab. Mit Busta Rhymes ruft man inzwischen nur ein müdes Lächeln hervor, während man mit der neuen Capleton-Single auf dem ,Eightball‘-Riddim ganz weit vorn liegt.“

Nicht zuletzt war es die Abwesenheit eines zugkräftigen, charismatischen Marley-Nachfolgers, die die Major-Plattenfirmen lange zurückhaltend agieren ließ. Denn von Crossover-orientierten Künstlern wie Beenie Man und Shaggy abgesehen, wurde nicht in Reggae-Künstler investiert. Entsprechend bedeckt hielt sich der überwiegende Teil der Musikpresse. So handelt die Geschichte des Dancehall in Deutschland auch von veränderten Vertriebswegen besagter 7-Inch-Singles. Hiesige Fans beschafften sich aktuelle Platten erst in London, später direkt auf Jamaika. Nebenher baute man Plattenvertriebe auf. Dank gut gefüllter Singleskartons auf den Tresen einschlägiger Spezialgeschäfte konnte nun das musikalische Geschehen auf Jamaika auch hierzulande in Echtzeit verfolgt werden.

Vor rund drei Jahren ließen sich dann massiv HipHop- und auch Techno-Kids auf den vormals eher geschlossen anmutenden Veranstaltungen blicken. Ein Zulauf, der dennoch nicht zu musikalischen Qualitätseinbußen führte. Zu lange hatten sich Dub- oder Dancehall-Veranstaltungen in enklavischen Orten wie beispielsweise der linksautonomen Flora in Hamburg abgespielt, und das Yaam in Berlin funktionierte bei allem Stüssy-Lifestyle vor allem auch als Ort multikultureller Praxis. Kurz: Ein Code-Geflecht war entstanden, das einladend und zugleich kompliziert war, das zu knacken weit mehr Aufwand erforderte als unbeteiligtes Zuschauen.

Ulli Güldner, Journalist und eloquenter Betreiber des Reggae-Plattengeschäfts Downbeat in Berlin, stellt fest: „Bei House oder Drum ’n’ Bass genügt es theoretisch, mixen zu können und die aktuellen Platten zu besitzen. Bei Reggae geht das so nicht. Man muss nicht nur die neuen Riddims kennen, man muss auch mit 15 bis 25 Jahre alten Tunes kombinieren können, die auf demselben Riddim basieren. Da als DJ reinzukommen, ist schwierig. Noch vor drei Jahren konnte man alles spielen, die Leute haben nicht erkannt, ob es brandneu oder zwei Jahre alt oder gar ein Dubplate ist. Heute ist das anders, da gehen die Leute steil, wenn sie die ersten Takte einer aktuellen Hitsingle hören.“

Trotz derart erschwerter Bedingungen für den Quereinstieg, war der Zulauf zu Reggae-Events kaum zu bremsen. „Man hatte manchmal den Eindruck, dass sich da Schulklassen geschlossen verabredet hatten“, staunt Deeroy, Szeneaktivist und Betreiber des Dub-Store im Prenzlauer Berg, „eigentlich hätte man das Ende dieser Welle längst erreichen müssen, aber es geht immer weiter. In Berlin kann man an jedem Abend zu einer gut besuchten Dancehall-Veranstaltung gehen.“

Die gelobte Insel

Das schlägt sich auf die Verkaufszahlen nieder. Greensleeves, das jamaikanische Traditionslabel, das vor einem Jahr vom Vertrieb des Multi Universal zum kleineren, aber progressiveren NTT wechselte, verzeichnet seit einem Jahr stark ansteigende Verkaufszahlen. Für Oliver Geywitz, bei Greensleeves in London tätig, ist das hiesige Geschehen durch eine neuartige Eigendynamik geprägt: „Wenn früher eine Platte in England gut lief, konnte man davon ausgehen, dass sie auch auf dem deutschen Markt funktioniert. Das ist vorbei. Der deutsche Markt hat sich inzwischen weitgehend entkoppelt.“

Der schwenkt nun mit den Erfolgen deutscher Künstler zunehmend auf Homegrown-Produkte um. Doch keine Angst: Dass sich so etwas wie eine deutsche Leitkultur ausgerechnet im Reggae vollzieht, steht nicht wirklich zur Debatte. Denn noch immer müssen sich hiesige Künstler an den jamaikanischen Standards messen lassen. Seinen Hauptumsatz macht Ulli Güldner mit Singles made in Jamaika – bis zu 1.000 Stück in anderthalb Wochen. Im Vergleich mit dem Niveau auf Jamaika schneiden deutsche Produktionen für ihn hoffnungsvoll, aber eben doch unterlegen ab. „Der jamaikanische Standard ist zu hoch, da liegen noch Welten dazwischen“, urteilt er streng. „Die Künstler, die am nächsten dran sind wie Gentleman oder Tolga geben hier den Ton an. Wenn jemand vom Geschehen auf Jamaika abgeschnitten ist, kann er bestenfalls passable Kopien hinlegen oder versuchen, jamaikanische Styles einzudeutschen.“

Vielleicht ist damit aber auch schon der ideale Moment beschrieben, um auf dem Weg nach Jamaika die nächste Abfahrt zu nehmen. Denn die Suche nach dem authentischen Jamaika-Sound kann im günstigen Fall zu einem tighten Stück wie den „Dancehall-Caballeros“ von Seeed führen, im schlechteren Fall zu einem allzu ehrfürchtigen Blick auf die gelobte Insel. Zu Recht grauste sich der Journalist Tobias Nagl anlässlich der Rezension einer auf Jamaika produzierten Dancehall-Compilation deutscher HipHopper vor der willigen Übernahme jener homophoben, frauenfeindlichen Klischees, die im dortigen Dancehall nicht nur, aber auch kursieren. Der Hamburger HipHopper Jan Delay kreuzt in dieser Situation Ideen der Kritischen Theorie mit traditionellem Roots-Reggae und bezeichnet sein Ergebnis als „Karl-May-Reggae“. Ein neuer Anfang?